Proteste im Iran„Das gesamte politische System steht substanziell infrage“
7. Oktober 2022, von Anna Priebe
Foto: pixabay/Shimaabedinzade
Im Iran erheben sich viele Menschen gegen das politische System, doch die Welt hat wegen der Presse-Einschränkungen im Land keinen umfassenden Einblick in die Geschehnisse. Im Interview ordnet Nahost-Expertin Dr. Margret Johannsen die Situation ein. Sie ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Dozentin im Studiengang „Master of Peace and Security Studies“.
Im Iran ist eine junge Frau gestorben, nachdem sie verhaftet wurde, weil sie sich wohl nicht an die geltenden religiösen Kleidervorschriften hielt. Ihr Tod hat massive Proteste ausgelöst. Wer protestiert und gegen wen?
Es sind Proteste, die von Frauen angeführt werden. Die feministische Komponente ist außerordentlich stark, aber im Kern geht es um die grundsätzliche Ablehnung der geltenden Doktrin von der Vormundschaft des Obersten islamischen Rechtsgelehrten.
Der jetzige Aufstand hat zwar in Kurdistan angefangen, da es eine junge Kurdin war, die in Teheran verhaftet wurde. Aber innerhalb eines Tages hat sich die Bewegung auf alle Bezirke der Hauptstadt ausgeweitet. Inzwischen gibt es organisierte Proteste im gesamten Land und es beteiligen sich Iranerinnen und Iraner aller Ethnien. Die Tatsache, dass Frauen vorangehen, zieht natürlich die Aufmerksamkeit auf sie, aber sie sind nicht alleine. Diese große übergreifende Basis ist ungewöhnlich und auch ein Zeichen für die Vehemenz des Widerstands gegen das Mullah-Regime.
Gab es ähnliche Proteste schon in der Vergangenheit?
Die jetzige Gesellschaftsordnung, die dem obersten religiösen Führer seine quasi diktatorische Macht verleiht, gilt seit der Revolution 1979. Sie ist sehr viel rigider als in den anderen muslimischen Ländern der Region und betrifft mit ihren Vorgaben die gesamte Bevölkerung. Es ist eine Interpretation des schiitischen Islam, die dem Obersten Rechtsgelehrten alle Macht gibt. Selbst viele Schiiten lehnen dieses Regime ab.
Proteste gab es schon mehrfach, zum Beispiel 2009, 2011, 2015 und 2019. Diese Aktionen hatten aber einen anderen Charakter, waren oft regional begrenzt und etwa aus wirtschaftlicher Not heraus entstanden. Die Proteste jetzt haben eine andere Dimension.
Frauen prägen die Bilder des Protests. Wie ist die Situation der Frauen im Iran?
Die Rolle der Frau im Iran ist zwiespältig. Viele Gesetze benachteiligen Frauen stark und beschränken etwa ihre Berufsmöglichkeiten. In der Öffentlichkeit sind Frauen kaum präsent und ihre Teilhabe unterliegt strengen Regeln. Welches Risiko Frauen eingehen, wenn sie sich zum Beispiel nicht an die Kleidervorgaben halten, sieht man aktuell.
Im Privaten haben Frauen allerdings häufig eine sehr wichtige Stellung. Zudem sind die Frauen im Iran vielfältig gebildet und verfolgen oft eine akademische Karriere – und das sehr viel häufiger als in westlichen Ländern auch in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Sie haben sich an den Universitäten quasi einen kleinen Raum der Freiheit im öffentlichen Leben erobert. Das ist in vielen anderen muslimischen Ländern so nicht möglich.
Und was man auch nicht vergessen darf: Die Iranerinnen haben auch schon bei vorherigen Protesten eine aktive Rolle gespielt, etwa 2009. Dabei nutzten sie die religiösen Vorgaben zu ihrem Vorteil, indem sie zum Beispiel unter ihrer Verschleierung Botschaften verstecken. Sie nutzten sie quasi als Tarnung.
Kann man abschätzen, ob die aktuellen Proteste erfolgreich sein werden?
Das ist sehr schwierig. Unser Blick in das Land ist sehr beschränkt, was ich sehr bedauere. Journalistinnen und Journalisten haben ja quasi keine Möglichkeit, frei aus dem Iran zu berichten. Das ist fatal, denn es entstehen falsche Bilder und Mythen. Nur durch die Demonstrierenden selbst erfahren wir ja von dem, was momentan passiert. Sie nutzen ihre Smartphones nicht nur, um sich zu organisieren, sondern auch, um Bilder zu teilen. Die Weltöffentlichkeit – und damit auch die Wissenschaft – muss sich aus diesen tausenden kleinen Eindrücken ein Mosaikbild zusammensetzen. Aber durch diese individuellen Möglichkeiten der Kommunikation sind die Proteste auch kaum einzuhegen.
Ob aus Protesten eine Revolution wird – was in diesem Fall meiner Meinung nach durchaus möglich ist – und ob diese dann Erfolg hat, weiß man immer erst am Ende. Die Polizei geht mit größter Brutalität gegen die Demonstrantinnen vor – und die einzelnen Iranerinnen riskieren eine Menge. Aber sie sind mutig und reißen andere durch ihre Courage mit. Zwar konzentriert sich der Protest eher in Städten, aber dafür im ganzen Land. Das gesamte politische System steht substanziell infrage und es ist außergewöhnlich, wie umfassend die Proteste sind.