Historische Einordnung des Ukraine-Kriegs„Dieser Krieg ist eine Zeitenwende“
28. März 2022, von Tim Schreiber
Foto: Jean Claude Mahler
Informationen für die Öffentlichkeit, Zeichen der Solidarität oder direkte Hilfe für Betroffene: Viele Einrichtungen und Mitarbeitende der Universität Hamburg beschäftigen sich aktuell mit dem Krieg in der Ukraine und dessen Folgen. Wir zeigen in unsere Serie einige Beispiele. Teil 1: Prof. Dr. Monica Rüthers, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg.
Sie haben gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen eine öffentliche Podiumsdiskussion zum Ukraine-Krieg veranstaltet. Wie kam es zu der Idee?
Wir hatten das Bedürfnis, etwas für die breite Öffentlichkeit zu machen, vor allem weil wir an der Universität Hamburg viel Kompetenz zu den Themen Osteuropa und Gewalt haben. Zum Beispiel in unserer Forschungsgruppe „Gewalt-Zeiten“, die die Diskussion organisiert hat. 2014/2015 haben wir auch schon eine Ringvorlesung zur Krim-Annexion veranstaltet und werden im Sommer wieder eine Reihe zur Ukraine anbieten.
Wie überrascht waren Sie als Osteuropa-Expertin vom Angriff?
Das hat eigentlich niemand für möglich gehalten. Die Pläne scheinen ja nicht einmal im Umfeld von Wladimir Putin bekannt gewesen zu sein. Ich hatte damit gerechnet, dass etwas Kleineres im Donbass passiert, aber nicht damit, dass das Ziel die ganze Ukraine ist. In unserer Diskussion waren wir uns nicht nur einig, dass das so nicht vorhersehbar war, sondern wir sind uns sicher: Dieser Krieg ist eine Zeitenwende. Das war ein Ereignis wie der Fall der Mauer oder die Terroranschläge von New York. Ein umstürzendes Ereignis also, das die Gegenwart in ein Davor und ein Danach einteilt.
Wie sind die Einschätzungen zum Fortgang des Kriegs?
Es herrscht nicht nur Verwunderung über den Angriff, sondern auch über das Scheitern der Bemühungen um einen schnellen Sieg. Niemand kann aktuell eine einfache Prognose geben. Sicher ist nur, dass man mit Putin schwer verhandeln kann, weil er sich an überhaupt keine Regeln hält. Das ist ja nun noch einmal deutlicher geworden. Optimismus ist daher leider nicht angebracht.
Warum fand der Angriff gerade jetzt statt?
Dazu gibt es unterschiedliche Thesen und es ist am Ende wohl eine Mischung. Politisch war der Moment günstig, weil es in den USA und auch in Deutschland neue Regierungen gibt. Ich persönlich denke aber, dass die Revolution in Weißrussland mit den Protesten gegen den Diktator Lukaschenko eine größere Rolle gespielt hat. Die jüngere Generation, die das dort auf den Weg gebracht hat, die gibt es in Russland auch – und davor hat Putin Angst. Die russischen Millenials sind anders aufgewachsen und haben eine andere Vorstellung vom Leben und von der Freiheit. Putin wird auch bald 70 Jahre alt und wenn er sein großes Projekt einer „russischen Welt“ inklusive einer Annexion der gesamten Ukraine durchziehen will, muss er das jetzt machen.
Welcher Plan, welche Ideologie steckt dahinter?
Es gibt eine ideologische Grundlage für die Ereignisse: den Eurasianismus. Diese Ideologie wurde in den 1920er Jahren im russischen Exil, tatsächlich in Deutschland, entwickelt. Sie sieht die „Kulturkreise“ in starker Konkurrenz zueinander. Also Eurasien, von Russland dominiert, als eigenen Kontinent zwischen Europa und Asien gegen die westliche Welt. Deshalb spricht der russische Außenminister Lawrow auch immer von westlichen Werten, die man nicht wolle. Das ist auch ein Wertekrieg. Und natürlich spielt eine narzisstische Kränkung eine Rolle: Die Sowjetunion war mal eine Großmacht, Russland wurde aber in den vergangenen 30 Jahren von den USA ignoriert. Man möchte aber weiter Großmacht sein.
Wie sehr ist Ihre Forschung aktuell eingeschränkt?
Ich arbeite gerade an einem Projekt zu Pogromen, hauptsächlich in der Ukraine zwischen 1880 und 1920. Bislang hatten die Archive in der Ukraine gläserne Wände. Da konnte man alles bekommen – im Gegensatz zu Russland, wo schon seit einiger Zeit alles schwieriger wird. Nun ist nicht nur die Ukraine nicht mehr zugänglich, es besteht auch die Sorge, dass dort jetzt Material oder ganze Archive beschädigt oder zerstört werden.