Kommission zum Umgang mit NS-belasteten StraßennamenAuseinandersetzung statt Tilgung
16. März 2022, von Anna Priebe
Foto: UHH/Schreiber
Verbrecher oder Mitläuferin? Umbenennen oder einordnen? Eine Expertenkommission hat allgemeine Empfehlungen erarbeitet, wie man in Hamburg mit NS-belasteten Straßennamen umgehen sollte. Kommissionsmitglied Prof. Dr. Rainer Nicolaysen, Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität Hamburg, erklärt die Ergebnisse.
Rund 3.000 der knapp 9.000 Straßen, Wege und Plätze in Hamburg sind nach Personen benannt. Ist bekannt, wie viele von diesen eine NS-Belastung haben?
Nein, eine konkrete Zahl kann man noch nicht nennen. In seiner sehr hilfreichen Vorstudie von 2017 hat der Historiker David Templin 58 Namensgeberinnen und Namensgeber möglicherweise NS-belasteter Verkehrsflächen näher erforscht. Die Kommission hat diesen Kreis noch erweitert, wobei wir 22 Fälle exemplarisch untersucht und ausführlich diskutiert haben. Auf Basis unserer Empfehlungen müssten nun aber nochmal alle potenziell belasteten Straßennamen einzeln überprüft werden.
Das Ziel der Kommissionsarbeit war es, allgemein anwendbare Vorschläge zu erarbeiten, wie man mit solchen Straßennamen umgehen sollte. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Zunächst vielleicht noch ein Wort zur Ausgangslage: Seit 1986 erhielten 17 Straßen wegen des Nachweises einer schwerwiegenden NS-Belastung ihrer Namensgeber einen neuen Namen. Dabei ging es allerdings stets um einzeln behandelte Fälle. Eine systematische Untersuchung der Straßennamen blieb aus, und bei Neubenennungen galt lediglich eine NSDAP-Mitgliedschaft als Ausschlusskriterium, aber auch das wurde nicht immer eingehalten.
Die Kommission hebt jetzt insbesondere drei Kriterien hervor, die bei der Frage der Straßenumbenennungen beachtet werden sollten: Eine Umbenennung ist notwendig, wenn eine Benennung nach einer Person erfolgt ist, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, die bei ihren Handlungen den Tod eines Menschen, etwa in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Eugenik, einkalkuliert oder die in sonstiger Weise anderen Menschen dauerhaft geschadet hat. Auf dieser Grundlage haben wir in elf der von uns untersuchten Fälle empfohlen, Straßen umzubenennen. Fünf davon betreffen Professoren unserer Universität.
Wer waren die fünf Professoren?
Das waren zunächst die beiden Mediziner Theodor Heynemann und Franz Oehlecker, die für die Durchführung von Zwangssterilisationen verantwortlich waren. Eindeutig ist auch der Fall des Historikers Heinrich Reincke, der außerordentlicher Professor an der Universität war und ab 1933 als Direktor des Staatsarchivs amtierte. In dieser Funktion trug Reincke die Verantwortung für die Ausstellung von „Ariernachweisen“ und denunzierte aus eigenem Antrieb Antragsteller mit „nicht arischen“ Vorfahren bei Arbeitgebern sowie staatlichen und Parteidienststellen. Auch Richard Schorr, Professor für Astronomie und langjähriger Direktor der Sternwarte, schadete anderen Menschen, indem er Astrologen als „Volksschädlinge“ denunzierte und seine Mitarbeiter zu ähnlichen Denunziationen aufforderte, die lebensbedrohliche Folgen haben konnten. Der fünfte Name ist der des Erziehungswissenschaftlers Walter Bärsch, der 1977 Professor bei uns wurde. Er fälschte nach 1945 seinen Lebenslauf, um seine Vergangenheit in der SS und NSDAP zu verbergen. Nach ihm wurde noch im Jahr 2000 eine Straße benannt.
Wie sind Sie zu den genannten Kriterien gekommen?
Wir sind von Einzelfallprüfungen ausgegangen, haben Hintergründe und Details nachrecherchiert und ein Augenmerk auch auf Brüche und Uneindeutigkeiten in den Biografien gelegt. Bei verbrecherischen Handlungen, wie ich sie eben beschrieben habe, war die Sache klar. Da ist eine Umbenennung notwendig. In elf anderen Fällen empfehlen wir hingegen keine Umbenennung, sondern eine kritische Kontextualisierung.
Was ist damit gemeint?
Hier geht es um Benennungen nach Personen, die zwar nicht verbrecherisch agiert haben, aber etwa durch ihre Unterstützung des Nationalsozialismus oder durch Mitgliedschaften in Parteiorganisationen so problematisch sind, dass der Straßenname nicht einfach unkommentiert so bleiben kann, wie er ist. Ergänzende Schilder sind hier eine Möglichkeit, aber auch QR-Codes, über die man zu ausführlicheren Erläuterungen weiterleiten kann.
Die Vergangenheit soll nicht getilgt werden, als habe es sie nie gegeben
Es muss also nicht immer ein neuer Name her?
Nein – und das war der Kommission auch wichtig zu betonen: Die Vergangenheit soll ja nicht getilgt werden, als habe es sie nie gegeben. Es geht gerade nicht um eine vergangenheitspolitische Flurbereinigung, sondern um einen aufklärerischen Umgang mit der Vergangenheit – und das dauerhaft und ganz konkret im Alltag. So sollen auch in den Fällen, in denen wir eine Umbenennung für notwendig halten, Erläuterungen die Straßenumbenennungsgeschichte dokumentieren. Auf diese Weise bleiben die historischen Zeitschichten sichtbar.
Sie haben neben Umbenennung und Kontextualisierung auch noch Rückbenennungen empfohlen. Was verbirgt sich dahinter?
Da sind wir gewissermaßen über die uns gestellte Aufgabe hinausgegangen. Denn es gibt ja nicht nur NS-belastete Straßennamen, sondern auch solche Straßen, die im „Dritten Reich“ umbenannt wurden, um vorherige Namen aus dem Stadtbild zu entfernen. So wurde etwa die 1932 benannte Käthe-Kollwitz-Straße 1933 nach dem völkischen Schriftsteller Walter Flex umbenannt. Und so heißt sie noch heute. In zwei anderen Fällen waren Straßen ursprünglich nach Personen jüdischer Herkunft benannt, die 1938 von den Nationalsozialisten umbenannt wurden. Hier sollten jeweils die früheren Namensgeber wieder in ihr Recht gesetzt werden.
Wie geht es nun weiter?
Unsere Kommissionsarbeit ist mit der Veröffentlichung des Abschlussberichts beendet. Die entwickelten Empfehlungen sollen in eine Überarbeitung der bisherigen Benennungsbestimmungen einfließen. Hier sollten sowohl die Kriterien für Straßenbenennungen als auch für -umbenennungen deutlich geschärft werden. Was unsere konkreten Vorschläge für Umbenennungen, Kontextualisierungen und Rückbenennungen angeht, sind jetzt die Bezirke am Zuge. Dort werden unsere Empfehlungen beraten und sicher auch mit den Anwohnerinnen und Anwohnern der betroffenen Straßen erörtert. Zu klären ist auch noch die Frage, welche neuen Namen die umzubenennenden Straßen erhalten sollen. Nach der Arbeit in den Bezirken wird das Staatsarchiv die Ergebnisse prüfen und die Senatskommission schließlich entscheiden.
Bis dahin dauert es also noch. Aber ein diskursiver Prozess, ein bewussterer Umgang mit belasteten Straßennamen, mit unserer Alltagsumgebung ist jetzt in Gang gekommen. Die Problematik wird uns dauerhaft beschäftigen.
Die Kommission
Die Kommission, die einheitliche Entscheidungskriterien für den Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg entwickelt und Empfehlungen zu möglichen Umbenennungen ausgesprochen hat, wurde von der Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg eingesetzt. Sie hat in den rund zwei Jahren seit der Einberufung zehn Mal getagt und im März 2022 den Abschlussbericht vorgelegt. Weitere Expertinnen und Experten neben Prof. Dr. Rainer Nicolaysen waren:Dr. Rita Bake, Prof. Dr. Detlef Garbe, Senatorin a.D. Christa Goetsch, Senatorin a.D. Dr. Herlind Gundelach, Prof. Dr. Miriam Rürup, Staatsrat a.D. Hans-Peter Strenge und Prof. Dr. Malte Thießen. Ein weiteres Projekt beschäftigt sich in Hamburg zudem seit 2020 mit kolonial belasteten Straßennamen.