60 Jahre Hamburger SturmflutErinnerungsanker helfen, Katastrophen vorzubeugen
16. Februar 2022, von Ute Kreis
Foto: UHH/S.Janssen
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 kam es in Hamburg zu einer verheerenden Sturmflut. An mehr als 60 Stellen brachen die Deiche, das Wasser überflutete ein Sechstel der Hansestadt. 315 Menschen starben, Tausende wurden obdachlos. Wie Erinnerungen zur Risikovorsorge beitragen können, erforscht Beate Ratter, Professorin für Geographie an der Universität Hamburg.
Frau Ratter, selbst echte Katastrophen haben in unserem Bewusstsein nur eine begrenzte Halbwertszeit. Sie sagen aber, gegen das Vergessen helfen sogenannte Erinnerungsanker. Was hat es damit auf sich?
Das sogenannte kollektive Gedächtnis reicht in der Regel maximal zwei Generationen zurück, also etwa 50 bis 60 Jahre. Was davor geschah, verschwindet aus dem Erinnerungsvermögen – es sei denn, wir halten die Geschehnisse aktiv lebendig. Deshalb sind Jahrestage, Gedenkfeiern oder regelmäßige Medienberichte wichtig. Wenn sich die letzte große Sturmflut dieses Jahr zum 60sten Mal jährt und die Hamburgerinnen Und Hamburger davon in den Medien lesen und darüber sprechen, ist das auch ein Stück Risikovorsorge.
Wie meinen Sie das?
In Hamburg ist uns sehr bewusst, dass wir am und mit dem Wasser leben. Seit 2008 führt das Helmholtz-Zentrum Hereon jedes Jahr eine Befragung zum Klimawandel in Hamburg durch. An dieser Befragung arbeite ich mit. Wir erkundigen uns auch, welche Risiken die Bürgerinnen und Bürger konkret fürchten. Jahrelang nannten 80 Prozent der Befragten Sturmfluten, damit rangierten diese ganz vorn. Aktuell rücken außerdem Stürme generell verstärkt ins Bewusstsein. Dass Deichpflege eine gute Investition ist, man bei Hochwasser das Auto nicht am Hafen parkt oder rasch noch in Keller oder Tiefgaragen in Hafennähe geht, ist den meisten Menschen hier klar. Dieses Wissen verdanken wir auch der Erinnerung daran, wie schnell sich die Lage bei Hochwasser verschärfen kann.
Alle Jahre wieder Katastrophenszenarien – nutzt sich das nicht ab?
Ja, diese Gefahr besteht durchaus. Es ist daher entscheidend, dass Erinnerung und Gedenken nicht nur auf institutioneller Ebene stattfinden. Im Englischen gibt es den treffenden Begriff des „memory making“. Die Erinnerung darf nicht zur Routine werden, sondern sollte lebendig und zeitgemäß sein. Meine Kollegin Dr. Corinna de Guttry und ich konnten belegen, dass im Idealfall Erinnerungen auf der gemeinschaftlichen Ebene, etwa in der Schule, in Vereinen oder in lokalen Gruppen, mit Erinnerungen auf der persönlichen Ebene, beispielsweise in der Familie, zusammenkommen. Für eine solche Erinnerungskultur gibt es in Hamburg viele gute Beispiele: Da ist etwa die Lehrerin, die mit ihren Schülerinnen und Schülern ins Seniorenheim in Stellingen geht, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen interviewt und ein Buch darüber veröffentlicht. Oder die diesjährige Twitter-Aktion „60 Jahre Hamburger Flut“ der Helmut-Schmidt-Stiftung (@HHFlut1962, #HHFlut).
Tatsächlich ist „Sturmflut gucken“ in Hamburg ein beliebter Zeitvertreib. Erst neulich waren wieder Hunderte Schaulustige am Fischmarkt. Das hat also auch seinen Sinn?
Natürlich sind wir von Extremereignissen auch ein Stück weit fasziniert. Ich würde sagen, das ist eher gelebte Sensationslust als Katastrophenvorsorge. Aber am Ende ist wichtig, dass wir uns klarmachen, dass Wasser nicht nur von oben, sondern im Zweifel auch die Elbe hinaufkommt.
Das Thema ist aktueller denn je: Als im Sommer die Flutwelle im Ahrtal Häuser und Straßen wegriss, wurde gesagt, so hohe Wasserstände habe es noch nie gegeben.
Was nachweislich nicht stimmt. Zum Beispiel gab es auch 1910 ein großes Hochwasser an der Ahr, bei dem über 50 Menschen starben. Aber das ist lange her – und damit aus dem aktiven Gedächtnis verschwunden. Umso wichtiger ist es, dass der professionelle Hochwasserschutz Bürgerinnen und Bürger einbindet und ihr Risikobewusstsein wachhält.