Sportpsychologe Christian Spreckels berät den FC St. Pauli„Die Spieler sollen zeigen können, was sie draufhaben“
6. Dezember 2021, von Niklas Keller
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Körperliche Fitness und Ausdauer sind wichtig auf dem Fußballplatz. Doch wie bedeutsam ist die psychische Verfassung? Sportpsychologe Dr. Christian Spreckels forscht an der Uni Hamburg – und betreut die Spieler des Fußballclubs FC St. Pauli. Er weiß, warum der Kopf eine größere Rolle spielt als viele vermuten.
Wie arbeiten Sie mit den Profis vom FC St. Pauli?
Ich bin einmal die Woche als Sportpsychologe beim Training und arbeite meistens mit einzelnen Spielern, aber auch mit den Trainern und der Mannschaft zusammen. Ich unterstütze sie alle dabei, sich im mentalen Bereich weiterzuentwickeln. Nur wer mental gesund ist, kann auch die fußballerischen Qualitäten auf den Rasen bringen. Es gibt immer wieder Profisportler, deren Wettkampfleistung geringer ist als die Trainingsleistung, was auch bei Fußballspielern vorkommt. Mir geht es darum, dass diese Spieler selbst dafür sorgen, sich wohlzufühlen, um im Stadion zeigen zu können, was sie wirklich draufhaben.
Wir beim FC St. Pauli wollen genau wissen, wie die Spieler ticken. In der Motivationspsychologie spricht man von einem Leistungsmotiv, Machtmotiv, Anschlussmotiv und Autonomiemotiv. Jeder Mensch hat eine bestimmte Kombination dieser Motive. Ich kenne die Beweggründe der Sportler und kann sie somit gezielt ansprechen. Ich weiß, welcher Spieler welche Stressfaktoren hat, was ihm guttut und was nicht. Das Trainerteam und ich versuchen die Stressfaktoren zu vermeiden und einen Umgang zu etablieren, der Motive bedient. Wenn die Spieler das Gefühl haben, sich weiterzuentwickeln, ist das ein beflügelndes Gefühl und ein großer Motivator.
Bisher beschäftigen nur sechs von 18 Zweitligaclubs eine Sportpsychologin oder einen Sportpsychologen. Warum ist das so?
Das kann ich mir selbst schlecht erklären. Die Nachwuchs-Leistungszentren aller Bundesligavereine sind verpflichtet, jemanden aus der Sportpsychologie zu beschäftigen, der für die Jugendlichen da ist. Die meisten Spieler kommen aus diesen Zentren und kennen deshalb die psychologische Betreuung. Doch sobald sie zu den Profis wechseln, reißt die Betreuung häufig ab.
Die Athletik, die Ernährung und die Taktik sind in der Analyse und der Anwendung mittlerweile ausgeschöpft. Das Feld der Psychologie ist für viele Menschen vermutlich schwerer nachvollziehbar. Es ist messbar, wie viele Meter sich Spieler bewegen, aber die mentalen Zustände kann man in dieser Klarheit nicht berechnen. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum einige Trainer diese Ebene nicht bedienen. Dazu kommt, dass es immer noch die Assoziation gibt, jemand hätte ein Problem, wenn er psychologische Betreuung benötigt. Das wird aber glücklicherweise weniger, da es im Wesentlichen um einen leistungsförderlichen Umgang mit sich selbst geht, wozu auch die emotionale Regulierung zählt. Die Bewältigung von Problemen, sofern es welche gibt, gehört dann natürlich auch dazu.
Wie können Sie Spieler auf besondere Situationen, wie zum Beispiel einen Elfmeter, vorbereiten?
Auch Fußballer erleben Stressmomente. Das sind beispielsweise die Reaktionen des Trainers oder der Eltern, wenn man auf dem Platz keine gute Figur gemacht hat. Solche Erlebnisse können sich festsetzen und sich negativ auf die Wettkampfleistung auswirken. Dann haben die Spieler Angst vor dem Versagen.
Ich analysiere, was dem einzelnen Menschen zusetzt und reise dafür mit den Spielern gedanklich in frühere Situationen im Stadion, in denen sie nicht gestresst waren. Oftmals landen wir in diesen Gesprächen bei Momenten, in denen die Mannschaft aussichtslos hinten lag und nichts mehr zu verlieren hatte. Vielen Sportlern fällt das Spielen leichter, wenn sie keine große Erwartungshaltung haben. Ich versuche dann in Gesprächen mit einzelnen Spielern oder in Gruppen an der Erwartungshaltung zum Sport und dem Umgang mit Fehlern und Misserfolg zu arbeiten. Durch gezieltes Fragen decke ich natürliche Ressourcen auf – das sind Dinge, die uns bei der Zielerreichung helfen, wie Erfahrungen, Freunde oder Selbstbewusstsein.
Welche Erkenntnisse aus der Arbeit mit den Profis können Sie für Ihre Forschung nutzen?
Ich habe beim FC St. Pauli sehr offene Trainer, die sich für viele Forschungsfragen interessieren – auch weil sie wichtig sind, um die Spieler zu verstehen. Wenn ich weiß, dass bestimmte Persönlichkeitstypen unterschiedliche Werte in kognitiven Leistungen haben, dann kann ich daraus Ableitungen fürs Training herstellen. Auch die Kenntnis über einen Zusammenhang zwischen Stresserleben und Verletzungsanfälligkeit kann ich nutzen. Wenn sich neue Fragestellungen ergeben, forsche ich entweder selbst oder setze Studierende darauf an, die sich für das Thema interessieren. Das sind zum Beispiel Sportstudierende, die ihre Bachelor- oder Masterarbeit schreiben.
Haben Sie ein aktuelles Beispiel?
Es gibt eine Metaanalyse eines Studierenden aus dem Jahr 2020 dazu, ob die Veränderung von Emotionen Auswirkungen auf den Erfolg und auf die Treffgenauigkeit beim Beachvolleyballaufschlag hat. Es hat sich herausgestellt: Die Emotion Enttäuschung führte in diesem Fall zu weniger Treffern, aber mehr Fehlern. Bei der Emotion Freude nahm die Trefferzahl zu und die Fehlerquote blieb im Vergleich zur Eingangsmessung gleich. Und daraus kann man den Schluss ziehen, sich verstärkt um die Emotionalität der Sportler im Wettkampf zu kümmern. Es gibt also eine wissenschaftliche Fundierung, die Einfluss auf das mentale Training hat.
Sie sind nicht nur bei St. Pauli tätig, sondern auch beim Deutschen Tennisbund. Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit zwischen den Sportarten?
Es gibt viele Dinge, die man von Sportart zu Sportart übertragen kann. Aber natürlich gibt es auch grundsätzliche Unterschiede beim Team- und beim Individualsport. Beim Tennis geht es konkret um das Wohlbefinden der Spielerin oder des Spielers, beim Fußball hat zusätzlich das Team einen großen Stellenwert. Viele Fußballspieler sagen mir, wie viel Respekt sie vor Tennisspielerinnen und -spielern haben: Alleine im Stadion zu stehen und die Drucksituation zu bewältigen. Bei Fußballspielern stellt sich immer die Frage, wie man von seinen Mannschaftskollegen unterstützt wird. Wenn einer der elf Spieler einen groben Fehler macht, können alle mit runtergezogen werden oder aber sie bauen sich gegenseitig auf, indem sie sich bemühen, den Fehler des anderen mit auszubügeln. Wenn so eine Fehlerkultur vorhanden ist, passieren weniger solcher Fehltritte.
Mittlerweile sieht man immer häufiger, dass Fußballerinnen und Fußballer sich untereinander positiv bestärken, auch wenn mal der Ball am Tor vorbeigeht. Das sah früher noch ganz anders aus. Da hat man sich in der Halbzeitpause gegenseitig beschimpft.
Sind Sie St. Pauli-Fan oder schlägt ihr Herz auch ein wenig für den HSV?
Ich habe als Hamburger schon immer eine starke Verbundenheit zum FC St. Pauli, respektiere aber auch den HSV und habe dort einige Jahre den Bereich der Profis kennengelernt. Ich bin nicht in der totalen Rivalität, so wie es einige Fans handhaben. Stattdessen gucke ich mit großem Interesse zum HSV. Aber ich erlaube mir zu anderen Teams keine Urteile, auch weil ich diese gar nicht treffen kann. Für Mutmaßungen bin ich viel zu wissenschaftsgeprägt.