Tod und Bestattungen im Wandel der Zeit„Es wurde lange nicht mehr so viel getrauert wie heute“
27. Oktober 2021, von Christina Krätzig
Halloween, Allerheiligen und Allerseelen: Von jeher gedenken Menschen Ende Oktober, Anfang November der Anderswelt und der Toten. Sterbeforscher Prof. Dr. Norbert Fischer erklärt, wie sich die Gedächtniskultur wandelt.
Herr Fischer, als Kulturwissenschaftler beschäftigen Sie sich mit einem Thema, das die meisten lieber meiden. Sie sagen, selbst die Art, wie Menschen beerdigt werden wollen und wie Hinterbliebene trauern, ist Trends unterworfen. Inwiefern?
Es gibt Trends in diesem Bereich, und es hat sie immer gegeben. Verursacht werden sie durch religiöse, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen der Gesellschaft. Aktuell beobachten wir beispielswiese den Trend zu Naturbestattungen ohne Grabstein: in extra dafür ausgewiesenen Wäldern oder in Friedhofsarealen, die als Garten oder Wiese gestaltet werden. Auch Seebestattungen nehmen stark zu: In einigen norddeutschen Küstenstädten machen sie inzwischen zehn bis 20 Prozent aller Bestattungen aus. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Dieser Trend hängt unter anderem mit der Auflösung traditioneller Familienstrukturen zusammen. Alleinlebende haben vielleicht niemanden, der ihr Grab pflegt, oder die Nachkommen wohnen zu weit weg.
Können Sie auch Beispiele für wirtschaftliche oder religiöse Veränderungen im Bestattungswesen nennen?
Ab dem 16. Jahrhundert hat die Reformation die Form der letzten Ruhe verändert. Die Friedhöfe konnten nun vor die Tore der Städte verlagert werden, was zuvor aus religiösen Gründen gescheitert war. Ab dem späten 19. Jahrhundert erlaubten die protestantischen Kirchen nach und nach Feuerbestattungen, die von der katholischen Kirche geächtet waren. Für den Vatikan galt eine Erdbestattung als Voraussetzung für die leibliche Auferstehung – eine Haltung, die übrigens erst in den 1960er-Jahren aufgeben wurde.
Die protestantischen Kirchen nahmen das diesseitige Leben wichtiger als man es zuvor kannte. So kamen die sogenannten sprechenden Grabsteine in Mode: Steine mit langen Inschriften, die Auskunft über die Biografien der Verstorbenen gaben. Im norddeutschen Raum sind die bekanntesten Beispiele hierfür die Seefahrergrabsteine auf Amrum und Föhr.
Wirtschaftliche und hygienische Gründe für Veränderungen lagen im 19. Jahrhundert vor: Durch die Industrialisierung und Verstädterung wurden viele Friedhöfe in den Städten zu klein. Wohlhabende Kommunen legten einige der neuen Friedhöfe nach einer gartenarchitektonischen Mode an: im Stil englischer Landschaftsparks. So entstanden Parkfriedhöfe wie der 1877 gegründete Ohlsdorfer Friedhof.
Konnten diese neuen Friedhöfe an jedem beliebigen Ort entstehen?
Nein, es gibt schließlich hygienische Aspekte bei der Planung eines Friedhofes zu beachten. Er muss über einen lockeren, gut durchlüfteten Boden verfügen, sonst verwesen die Leichname nicht – Stichwort Moorleichen. Im norddeutschen Marschland liegen Friedhöfe deswegen traditionell in den Geestkernen, oder auf künstlich aufgeschüttetem Hügeln, sogenannten Wurten.
Friedhöfe sind auch Wirtschaftsunternehmen, das vergisst man oft. Wirken sich die heutigen Trends auf sie aus?
Unbedingt. In Schleswig-Holstein beispielsweise sind die Friedhöfe wegen der neuen Bestattungsformen dramatisch unterbelegt. Teilweise ist die Hälfte aller Grabstellen leer. Da die Areale trotzdem gepflegt werden müssen, stehen viele Kommunen und Kirchen als Friedhofsträger vor einem Problem. Manche lösen es, indem sie auf Trends eingehen und innovative Formen der Bestattungen etablieren.
Gibt es noch weitere, neben den oben erwähnten grabsteinlosen Naturbestattungen?
Auch Themenbestattungen liegen im Trend. Auf manchen Friedhöfen entstehen thematische Areale, beispielsweise der HSV-Teil auf dem Altonaer Hauptfriedhof oder der Apfelhain auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Auch anderswo werden Themenfriedhöfe neu gegründet, beispielsweise nur für Frauen, wie in Hamburg und München, oder sogar nur für lesbische Frauen, wie in Berlin.
Haben wir damit die wichtigsten Trends der Gegenwart erfasst?
Einer fehlt noch: der Trend zum Public Mourning, zur Gedenkstätte im öffentlichen Raum. Man kennt die Kreuze an Straßen, die Orte kennzeichnen, an denen ein Mensch tödlich verunglückt ist. Solche informellen Gedenkstätten können sich jedoch überall befinden. Ich erforschte beispielsweise eine am Kanalufer nahe der Lübecker Innenstadt. Dort wurde in einem Gewässer die Leiche eines jungen Mannes gefunden, der ganz überraschend zu Tode kam. Seine Freunde erinnerten ab 2010 für rund sechs, sieben Jahre dieser Stelle an ihn. Eine weitere Gedenkstätte befindet sich in Heiligenhafen: An einem Strandzugang gedenken die Eltern ihrer kleinen Tochter, die dort 2017 beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst wurde.
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor? Und welchen Zweck verfolgen Sie mit ihr?
Für historische Fragestellungen besuche ich Archive, aber heutige Grabstellen oder Orte der Erinnerung beobachte ich oft über Jahre hinweg. Ich fotografiere sie, versuche die Hinterbliebenen aufzuspüren und wenn möglich zu interviewen. Bei Unfällen ist auch die Tages- und Regionalpresse eine wichtige Quelle.
Ich untersuche die materiellen Manifestationen des Trauerns, um den dahinterliegenden gesellschaftlichen Wandel zu erkennen. Denn das ist gar nicht so einfach. So wurde in den 1980erJahren – als ich anfing, mich mit dem Thema zu beschäftigen – beispielsweise gesagt, dass Menschen immer weniger trauern würden und dass das Trauern bald ganz verschwinden würde. Auf der Basis meiner Arbeit kann ich dem nun widersprechen: Es wurde lange nicht mehr so viel getrauert wie heute. Nur die Form und auch die Orte ändern sich und entsprechen vielleicht nicht immer den Vorstellungen vorangegangener Generationen.
Norbert Fischer ist Professor am Institut für Empirische Kulturwissenschaft.
Er forscht auch zur Regional- und Landschaftsgeschichte sowie Landschaftstheorie, maritime Kultur in Norddeutschland und zu Verstädterungsprozessen im Hamburger Umland.