Zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September in New York„Die Menschen in New York werden in ihrer Trauer nicht alleine sein“
8. September 2021, von Anna Priebe

Foto: Pixabay/DesignOil
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die Welt verändert. Prof. Dr. Gabriele Oettingen, Professorin für Pädagogische Psychologie, erlebte diesen Tag in New York. Im Interview erinnert sie sich an die Ereignisse und erzählt, wie sie sie bis heute prägen.
Wie haben Sie den 11. September 2001 erlebt?
Anfang September war ich gerade mit meiner Familie in New York angekommen. Ich war an der New York University, um den ein Forschungssemester zu absolvieren, bevor es nach Hamburg gehen sollte, wohin ich bereits den Ruf angenommen hatte.
Am Morgen des 11. September war ich noch zu Hause, noch nicht mal drei Kilometer nördlich vom World Trade Center entfernt. Allerdings gingen die Fenster unserer Wohnung nicht nach Süden und daher sah ich nicht, was passierte. Dass etwas nicht stimmte, habe ich erst gemerkt, als die Telefonverbindung nach Deutschland nicht aufgebaut werden konnte. Als klar war, dass es sich um einen Anschlag handelte, galt mein erster Gedanke meinen Kindern, die in der Schule waren.
Wie war es in der Stadt?
Auf dem Weg zur Schule sah ich viele Menschen, die schweigend von Süden nach Norden zogen, sie kamen aus der Umgebung des Anschlags. Obwohl niemand auf so eine Situation vorbereitet war, waren alle in der Schule ausnehmend warmherzig und einfühlsam den Kindern und den Eltern gegenüber, was natürlich eine große Hilfe war.
Der Zusammenhalt war auch in den folgenden Tagen und Monaten sehr stark. Obwohl meine Kinder ja noch nicht lange in der Schule waren und ich auch noch kaum jemanden kannte, waren die Eltern ein großer Trost und haben uns aufgenommen, als wenn wir schon immer dabei gewesen wären. Der Trost ist viel über physischen Kontakt gelaufen, wir haben uns im wahrsten Sinne des Wortes gestützt. Ganz anders als jetzt bei der Pandemie durften wir zum Glück die menschlichen Reaktionen in einer solchen Ausnahmesituation, die körperliche Nähe, zeigen.
Gibt es ein Bild, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Ich habe die Türme glücklicherweise nicht fallen sehen, aber die Menschenströme, die mit weißen Perücken aus Staub über den Broadway Richtung Norden gegangen sind, werde ich nicht vergessen. Manche haben die Bilder der fallenden Türme im Fernsehen immer wieder angeschaut, ich hatte eher Angst vor den Folgen des visuellen Erlebens. Auch in den Tagen und Wochen danach, haben die Menschen sehr unterschiedlich auf dieses einschneidende Lebensereignis reagiert.
Hat Sie das geprägt?
Damals ist mir sehr deutlich geworden, dass keiner wissen kann, wie der andere fühlt oder reagiert. Nicht nur in Bezug auf tragische Ereignisse, sondern auch in Alltagssituationen. In einem unserer Forschungsprojekte in den Jahren danach haben wir beobachtet, dass Menschen ihre eigenen Gefühle und Ziele auf andere projizieren – oft ohne es zu merken. Sie nehmen also an, dass andere die gleichen Gefühle und Ziele haben wie sie selbst. Das Interessante ist, dass diese Projektion massive zwischenmenschliche Folgen haben kann, die je nach Kontext ganz unterschiedlich sein können. Denn: Die Projektion erzeugt den Eindruck, die gleichen Ziele wie die anderen zu haben, und das färbt – je nach Kontext – unterschiedlich, auf das zwischenmenschliche Verhalten ab. In einem Wettbewerbskontext werden Menschen beispielsweise kompetitiver, in einem kollegialen Kontext werden sie dagegen kooperativer.
Die Anschläge hatten also auch Auswirkungen auf Ihre Forschung?
Das kann man schwer sagen, weil es vielleicht nur retrospektiv so erscheint. Ich habe mich nicht direkt an einen neuen relevanten Forschungsantrag gesetzt oder meinen Forschungsschwerpunkt verändert. Aber vielleicht haben die Ereignisse meine Forschung dann unterschwellig beeinflusst – meine Arbeit zur Projektion, aber auch andere Forschungsprojekte.
An Lehre und Forschung war direkt nach den Anschlägen ja sicher auch erstmal nicht zu denken, oder?
Am 11. September nicht, in den Tagen danach aber schon. In den Vorlesungen und Seminaren gab es erstmal nur ein Thema. Die NYU hat wirklich sehr schnell und gut reagiert. Sie stellt, ganz unabhängig vom 11. September, Studierenden professionelle Hilfe bei physischen und mentalen Problemen zur Verfügung. So konnten wir einzelnen auch diese Möglichkeiten nahebringen.
Die Lehrenden haben den Studierenden zugehört, die Perspektiven vielleicht etwas erweitert, versucht, die Ängste vor weiteren Anschlägen zu mildern. Ich hoffe, dass ich den Studierenden damals Unterstützung geben konnte.
Was hat sich für Sie persönlich verändert?
Nach den Anschlägen wollte ich nicht mehr gehen. Das ist zwar irrational, weil niemand etwas davon hat, wenn ich bleibe, aber Gehen hätte sich angefühlt, als würde ich die Stadt, die Universität, meine Kolleginnen und Freunde, die so konstruktiv auf dieses erschütternde Ereignis reagiert haben, im Stich lassen. Daher habe ich danach die engen Verbindungen behalten und sogar noch ausgebaut. Der regelmäßige Austausch von Promovierenden und Studierenden der Psychologie zwischen der Universität Hamburg und der NYU, den ich damals ins Leben gerufen habe und der bis heute andauert, wäre ohne meine intensiven Erlebnisse am 11. September vielleicht nie zustande gekommen.
9/11 wird immer präsent sein. Das war ein Wendepunkt
Hatte der Austausch nach 9/11 eine besondere Bedeutung?
Direkt nach den Anschlägen haben viele Studierende aus Hamburg verständlicherweise gezögert, nach New York zu kommen. Aber der Austausch war in den Jahren danach eine gute Möglichkeit, die Stereotype gegenüber Amerikanern vor Ort selbst zu überprüfen. Gerade während der Zeit unter Präsident George Bush war das Urteil vieler Deutscher über die USA ja sehr scharf. Umso wichtiger erschien mir der Austausch. Die junge Generation sollte die Möglichkeit bekommen, differenziert hinzuschauen, und über die Forschung besteht da eine wunderbare Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen und sich gleichzeitig beruflich und persönlich zu orientieren.
Wie ist heute der Umgang mit den Anschlägen – in New York, aber auch bei Ihnen persönlich?
9/11 wird immer präsent sein. Das war ein Wendepunkt – nicht nur für New York und Amerika, sondern für die Welt. Vorher hat sich einfach niemand vorstellen können, dass so eine menschengemachte Katastrophe passieren könnte. Vor Kurzem war ich auf einer Dachterrasse hier in New York und konnte auf den Freedom-Tower schauen, der an der Stelle der eingestürzten Türme gebaut wurde. Natürlich kommen sofort die Anschläge in den Sinn, aber bis heute ist es schwer vorstellbar, dass so ein riesiges Gebäude durch die Einwirkung eines Flugzeugs fallen könnte.
Auch in meinen Seminaren sind die Anschläge immer wieder präsent, etwa wenn es darum geht, wie Menschen auf tragische Situationen reagieren, was Resilienz ausmacht und wie es zu menschengemachten Katastrophen kommen kann. Wir haben inzwischen auch Studierende, die damals noch nicht geboren waren. Für sie ist es ein historisches Ereignis aus Büchern und Erzählungen.
Wie werden Sie am 20. Jahrestag gedenken?
Jedes Jahr am 11. September strahlen zwei Lichter von Ground Zero aus in den Nachthimmel. Sie sind ruhig und lassen jeden für sich trauern und gedenken.
Der 11. September 2001 wird in meinem Leben nicht verblassen. Ich glaube aber – und jetzt projiziere ich vielleicht selbst meine Gefühle auf andere –, dass es vielen Menschen weltweit so geht. Wissen Sie noch, wo Sie waren, als Sie von den Anschlägen erfahren haben? Bestimmt. Insofern würde ich annehmen, dass die Menschen in New York in ihrer Trauer am 11. September nicht alleine sein werden. Der Tag könnte weltweit ein Zeichen dafür sein, dass wir uns ständig aktiv darum kümmern müssen, wenn wir in Frieden leben möchten. Das geht nicht von alleine und ist auch keine Selbstverständlichkeit. Wir alle können uns im Kleinen und im Großen mit unseren Möglichkeiten für ein konstruktives Zusammenleben einsetzen und Feindseligkeiten entgegentreten.