Massenhafte Quallenvorkommen: Ursache-Wirkung-Verknüpfungen nicht so leicht zu entschlüsseln
11. August 2021, von Anna Priebe
Foto: pixabay/PublicDomainPictures
Ein Urlaub an der Küste ist im Sommer oft auch eine Begegnung mit Quallen, die durch ihr massenhaftes Vorkommen das Baden unmöglich machen. PD Dr. Dörthe Müller-Navarra aus dem Fachbereich Biologie erforscht die Rolle dieser Tiere im marinen Nahrungsnetz und berichtet von den Anforderungen, die diese Lebewesen an die Wissenschaft stellen.
Im Sommer liest man regelmäßig über sogenannte Quallen-Plagen. Gibt es diesen Begriff in der Wissenschaft?
Der Begriff „Plage“ ist ja negativ besetzt. Man bringt damit zum Ausdruck, dass es sich um etwas eher Bedrohliches handelt. Dabei steht meist der Mensch mit seinem Befinden als Bezugspunkt im Fokus, aber diese sogenannte anthropozentrische Sicht entspricht nicht der modernen naturwissenschaftlichen Perspektive. Außerdem ist Qualle nicht gleich Qualle.
Aber es stimmt natürlich, dass massenhafte Ansammlungen von Quallen – und darauf zielt der Begriff letztendlich – für den Menschen nicht nur unangenehm sind, sondern auch Probleme bereiten können. Zum Beispiel, wenn es nach Berührungen mit Tentakeln nesselnder Quallen zu Hautirritationen, Verbrennungen oder Schockzuständen kommt. Auch können sie Rohrleitungen verstopfen.
Was führt zu einem vermehrten Auftreten der Quallen?
Wenn man das genau wüsste, könnte man sich besser darauf einstellen und es würde dem Phänomen die Furcht genommen. Doch leider ist es nicht so einfach, die Ursache-Wirkung-Verknüpfungen zu entschlüsseln.
Das liegt unter anderem daran, dass man verschiedene Facetten des vermehrten Auftretens berücksichtigen muss: Da Quallen zum Plankton gehören, also aktiv nicht gegen Strömungen anschwimmen können, können sie durch Strömungen zusammengetrieben werden. Vor allem bilden sie sie aber Schwärme, um sich zu vermehren. Zum anderen beobachten wir aber auch exponentielles Wachstum der Quallen, das heißt, dass sie relativ plötzlich groß und damit auffällig werden können.
Hinzu kommt, dass Quallen – genauer gesagt die Gruppe der Cnidaria, zu denen diese systematisch gehören – einen komplizierten Lebenszyklus haben, der auch Polypenstadien umfasst. In dieser Phase sitzen sie für das bloße Auge kaum sichtbar an Steinen und Muscheln und treiben nicht im Wasser. Die Umweltbedingungen in diesem Stadium können aber durchaus Einfluss auf die Massenentwicklungen der freischwimmenden Quallen, auch Medusen genannt, im Sommer haben. So werden etwa Änderungen der Temperaturen im Winter als eine Ursache für das vermehrte Auftreten in der Ostsee diskutiert. Die Grundlagen der Quallen-Massen werden also schon viel früher gesetzt als zu dem Zeitpunkt, zu dem das Phänomen auftritt. Hinzu kommt, dass auch noch andere Faktoren wie etwa die Menge an Nährstoffen und deren Zusammensetzung im Wasser einen Einfluss haben können.
Das macht es zurzeit auch für uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schwierig, genaue Vorhersagen zu treffen.
Mal abgesehen davon, dass sie für Badende lästig sind: Welche Auswirkungen haben so viele Quallen auf die Ökosysteme?
Grundsätzlich ist das Gift der Quallen, etwa der Cubomedusen, eines der stärksten Gifte im Tierreich. Was beim Menschen meist unangenehm, bei den Cubomedusen sogar lebensbedrohlich ist, verläuft für die Beuteorganismen der Qualle tödlich. Doch obwohl ein vermehrtes Auftreten von Quallen häufig mit abnehmenden Fischbeständen in Verbindung gesetzt wird, kann man daraus nicht schließen, dass die Quallen für die zu beobachtende Abnahme der Fischbestände ursächlich sind. Es ist vielmehr andersrum: Die Quallen können sich ausbreiten, weil die Fischbestände vom Menschen so stark reduziert werden.
Quallen sind wohl nicht die Sackgasse im Nahrungsnetz, für die wir sie bisher gehalten haben.
Ökologische Auswirkungen können abgestorbene, absinkende Quallen-Massenansammlungen, sogenannte „Jelly-falls“, haben. So spielen sie für den Kohlenstoffexport in die Tiefe eine Rolle. CO2 wird im Ozean vor allem durch Photosynthese vom Phytoplankton gebunden. Über die Nahrungskette bauen Quallen dann daraus ihre Biomasse auf. Wenn tote Quallen also in Massen auf den Meeresboden sinken, nehmen sie diesen Kohlenstoff mit. Die Forschung zeigt aber auch, dass Quallen wohl nicht die Sackgasse im Nahrungsnetz sind, für die wir sie bisher gehalten haben, sondern dass sie durchaus auch von Fischen, etwa vom Mondfisch und vom Hering, gefressen werden.
Sie forschen im Projekt „GoJelly“. Was untersuchen Sie da genau?
Uns interessiert besonders die Rolle von Quallen im Nahrungsnetz. Da diese Tiere keine Strukturen haben, die zum Beispiel eine Untersuchung des Mageninhalts erlauben würden, nutzen wir alternative Bestimmungsmethoden. Das sind einerseits die stabilen Isotope 13C und 15N sowie andererseits Fettsäuren als biochemische Ernährungsmarker, also Nachweise der Ernährung. Zum Beispiel geben bestimmte Isotopenverhältnisse in der Qualle Auskunft darüber, auf welcher Ebene der Nahrungskette sie gefressen hat. Das Muster bestimmter Fettsäuren können wir dafür nutzen, herauszufinden, welche Algen oder Bakterien die Nahrungsgrundlage – auch über mehrere trophische Ebenen – bildeten.
Teil des Gesamtprojektes ist auch eine App, über die man Quallen melden kann. Was ist die Idee dahinter?
Die „Jelly Spotter App“ kann sich jede oder jeder auf das Smartphone (momentan nur für iOS, Anm. d. Red.) herunterladen und nutzen, um Fotos von Quallen, wenn man sie findet, darüber zu teilen. Diese Daten werden als Sichtungen in ein mathematisches Modell eingespeist, in dem neben Strömungen auch die Biologie der Tiere, also die Dynamik von Populationen, simuliert wird. Das soll helfen herauszufinden, woher die Quallen kommen und wo sich zum Beispiel ihre Polypenstadien befinden. In Zukunft soll sie dazu beitragen, die sogenannten „Quallenplagen“ besser vorhersagen zu können.