Zum Welt-MS-Tag am 30. MaiMultiple Sklerose: Eine Krankheit, 1.000 Gesichter, drei Forschungsprojekte
27. Mai 2021, von Anna Priebe

Foto: create jobs 51/Shutterstock.com
Rund 250.000 Menschen in Deutschland haben Multiple Sklerose. Trotz der sehr individuellen Verläufe ist allen Fällen eines gemein: MS ist nicht heilbar. Zum Welt-MS-Tag ein Einblick in drei Forschungsprojekte an der Universität Hamburg und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
„Wenn sich die Ergebnisse so weiter bestätigen, ist das eine sehr gute Perspektive“
Entwicklung einer neuen MS-Therapie mithilfe von Nanopartikeln, die Wirkstoffe in die Leber transportieren.
Prof. Dr. Horst Weller, Institut für Physikalische Chemie und Exzellenzcluster „CUI: Advanced Imaging of Matter“
„Mein Team und ich erforschen seit rund 20 Jahren Nanopartikel für die medizinische Anwendung in Diagnostik und Therapie. Dabei versuchen wir unter anderem, sogenannte „Drug Delivery Systeme“ zu entwickeln, also kleinste kapselartige Teilchen, die Medikamente zu betroffenen Organen bringen. Der ursprüngliche Ansatzpunkt war die Behandlung von Krebs. Wir wollten herausfinden, wie man die notwendigen Chemotherapeutika gezielt nur in Tumorzellen bekommt, ohne die gesunden Zellen zu zerstören. Ein großes Problem hierbei war, dass der größte Teil der Partikel in der Leber aus dem Blutkreislauf herausgefiltert wird und deshalb nicht zu den Tumorzellen kommt.
Zufall in der Krebsforschung

Wir haben aber nicht aufgegeben und zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) analysiert, in welche Leberzellen die Teilchen transportiert werden. Und das waren nicht die Zellen, in die Giftstoffe normalerweise gehen, sondern die LSECs, die sinusoidalen Endothelzellen, die eine wichtige Rolle im Immunsystem spielen und daher für die Forschung sehr interessant sind. Denn in diesen Leberzellen werden bestimmte Immunzellen produziert, die regulatorischen T-Zellen, die das Immunsystem so ausbalancieren, dass körpereigenes Gewebe nicht angegriffen wird. Bei vielen Autoimmunerkrankungen funktioniert dieser Ausgleich nicht und bei der Multiplen Sklerose zum Beispiel greift das Immunsystem das eigene Nervensystem an. Es gibt Möglichkeiten, die Produktion dieser regulatorischen Zellen anzuregen, aber dafür müssen bestimmte Wirkstoffe in die LSEC-Leberzellen gelangen, was bisher nicht möglich war. Da war unser Ergebnis ein echter Glücksfall.
Gemeinsam mit Forschenden des Sonderforschungsbereichs 841 der Universität Hamburg und des UKE haben wir dann geschaut, ob unsere Nanopartikel das passende Vehikel sein könnten – und die ersten Experimente sind sehr vielversprechend. Unser Ansatz dabei arbeitet sehr genau und unterdrückt nicht das gesamte Immunsystem. Im Modell konnte der Krankheitsverlauf durch die Nanopartikel mit den angefügten Wirkstoffen quasi direkt gestoppt werden und die Symptome wurden sogar geringer. Das war ganz großartig, denn es bildet die Basis für eine neuartige Technologie, die zur Behandlung zahlreicher Autoimmunkrankheiten denkbar ist.
Start in die klinische Forschung
Um möglichst schnell ein Medikament für die Therapie zu entwickeln, wurde ein Patent geschrieben und in Hamburg die Firma „Topas Therapeutics“ gegründet, mit der wir weiterhin eng zusammenarbeiten. Neben der Überprüfung von Wirksamkeit und Sicherheit steht zudem die Entwicklung standardisierter Herstellungsverfahren im Fokus, denn jede Abweichung in Größe und Form kann bei den Partikeln zu einer anderen Wirkung führen. Wie die Teilchen entstehen und wie man sie in der Herstellung kontrollieren kann, können wir zum Beispiel mit den speziell entwickelten Visualisierungsverfahren des Exzellenzclusters „CUI: Advanced Imaging of Matter“ auf atomarer Ebene untersuchen.
Gerade starten bei Topas die ersten klinischen Testphasen. Wenn sich die bisherigen Ergebnisse so weiter bestätigen, ist das eine sehr gute Perspektive – auch wenn es sicherlich noch einige Jahre dauern wird, bis die Zulassungsverfahren durch sind. Aber dieses Forschungsprojekt zeigt, dass man auch dann dranbleiben muss, wenn die Dinge nicht so funktionieren wie geplant. Insbesondere, wenn es um die komplexen Prozesse im menschlichen Körper geht. Nachhaken und offen sein für andere Lösungswege, das ist entscheidend.“
„Für Betroffene ist auch ein Nichtschlechterwerden schon ein Erfolg“
Entwicklung von Messinstrumenten, um Einschränkungen und Lebensqualität von MS-Patientinnen und -Patienten zu erfassen
Priv.-Doz. Dr. phil. Christine Blome, Hamburg Center for Health Economics (HCHE) sowie Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
„Geh- und Sehfähigkeit. Das waren die häufigsten Antworten bei einer der ersten Befragungen, an denen ich als Wissenschaftlerin mitgewirkt habe. Vor inzwischen mehr als 15 Jahren haben wir im Team um Prof. Christoph Heesen, dem Leiter der MS-Ambulanz am UKE, MS-Patientinnen und -Patienten gefragt: Was ist Ihnen für Ihre Lebensqualität am wichtigsten? Diese einfache Aussage war damals so relevant für viele Personen, dass sie Grundlage für viele weitere Erhebungen dieser Art war. Jetzt schauen wir viel gezielter, was für die einzelne Person individuell wichtig ist und berücksichtigen dabei auch die unterschiedlichen Verläufe.
Berücksichtigung der Besonderheiten bei MS

In unseren Studien geht es darum, Messinstrumente zu entwickeln, die die Lebensqualität und den Erfolg von Therapien bei MS-Betroffenen darstellen können. Dafür haben wir zum einen bereits bestehende Konzepte wie den „Patient Benefit Index“ an die Besonderheiten der MS angepasst. Die Hauptfragen hier waren, welche Therapieziele Menschen mit dieser Erkrankung haben und was ihnen in der Behandlung wichtig ist. Bei den meisten medizinischen Behandlungen ist eigentlich immer das Ziel, dass etwas besser wird, sich die Beschwerden also zurückbilden – am besten vollständig. Bei der MS haben wir dagegen gemerkt, dass schon das Beibehalten des aktuellen Zustands bzw. ein Nichtschlechterwerden ein Erfolg sind.
Tägliche Schwankungen abbilden durch mobile Befragungen
Zudem haben wir eine ganz neue Befragungsmethode entwickelt, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Verläufe bei MS sehr unterschiedlich sind und das Befinden auch über den Tag stark schwanken kann. Da ist es für die Patientinnen und Patienten oft schwierig, sich für einen Fragebogen zu erinnern, wie es ihnen über mehrere Wochen genau gegangen ist. Daher haben wir einen bereits eingesetzten, standardisierten Fragebogen in eine mobile Version überführt, der eine momentbasierte Erhebung ermöglicht. Das heißt, die Teilnehmenden haben eine Woche lang täglich drei Mal per Handy die kurze Befragung zu fünf Lebensbereichen, unter anderem Mobilität und Schmerzen, ausgefüllt. So kann man sehen, wie sich das Befinden über den Tag selbst, aber auch über mehrere Tage verändert.
Das war erstmal eine qualitative Studie mit einer kleinen Gruppe von Patientinnen und Patienten, um die Methode zu entwickeln und die Anwendbarkeit zu testen. Im nächsten Schritt müsste der Fragebogen noch spezifischer angepasst werden. Die Bereiche Kognition und Fatigue – eine starke Erschöpfung, die ein häufiges MS-Symptom ist – waren beim diesem ersten Test zum Beispiel noch nicht abgedeckt.
Muster erkennen und richtig behandeln
Unser Ziel ist es, dass diese Instrumente im erste Schritt in der Forschung eingesetzt werden können, um Krankheitsverläufe und Veränderungen gezielt zu verfolgen. Auch wenn die Evaluation von Therapien und die Messung der Lebensqualität immer mehr zu einem festen Bestandteil in der Behandlung werden, ist der tägliche Einsatz aber noch nicht absehbar – auch aufgrund der Menge an Daten, die von den Ärztinnen und Ärzten für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer ausgewertet werden müsste.
Für weitere Projekte würde es mich auch sehr interessieren, die Muster, die sich aus den Befragungen ergeben, genauer zu verstehen. Wie fluktuieren bestimmte Symptome? Welche Kennwerte gibt es, um zum Beispiel einen Schub zu erkennen? Und vor allem: Welche Muster sind für die Patientinnen und Patienten besonders belastend und damit auch relevant? Das alles kann zukünftig hoffentlich helfen, die Therapie noch genauer anzupassen und den Krankheitsverlauf so positiv zu beeinflussen.
„Wenn wir verstehen, wie sich das Immunsystems während der Schwangerschaft verändert, kann uns das helfen, Multiple Sklerose besser zu behandeln“
Forschungsgruppe untersucht die Umstellungen im Immunsystem von Schwangeren, um neue Therapiemöglichkeiten zu entwickeln
Prof. Dr. Manuel Friese, Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
„Das Immunsystem bei Frauen wird während der Schwangerschaft stark umgestellt, denn ihr Körper muss einen fremden Organismus tolerieren. Während Schwangere dadurch für bestimmte Infektionen anfälliger werden, etwa die Grippe oder auch Corona, hat das tolerantere Immunsystem positive Auswirkungen auf Krankheiten wie Multiple Sklerose. Bei MS ist das Immunsystem fehlgeleitet und attackiert das eigene Nervensystem, was während der Schwangerschaft aber deutlich seltener passiert. Wir wollen in unserem Forschungsprojekt verstehen, wie genau sich das Immunsystem während der Schwangerschaft verändert. Diese Informationen können wir dann vielleicht nutzen, um MS-Patientinnen und Patienten zu behandeln.

Dafür haben wir im Rahmen einer klinischen Forschungsgruppe, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, zum einen gesunde Schwangere begleitet, ihnen regelmäßig Blut abgenommen und die Veränderungen der Immunzellen sowie der löslichen Blutbestandteile gemessen. Die gleichen Untersuchungen haben wir zudem bei einer der weltweit größten Kohorten von schwangeren MS-Patientinnen durchgeführt. Viele von ihnen bekamen vor der Schwangerschaft eine Medikation, um die MS zu kontrollieren. Sie sprechen schon zu Beginn des Kinderwunsches mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin, da viele der Medikamente dann abgesetzt werden müssen. So haben wir die Möglichkeit, Vergleichswerte von vor und während der Schwangerschaft zu erheben.
Entscheidend ist das Zusammenspiel verschiedener Mechanismen
Die größte Herausforderung sind die sehr komplexen Zusammenhänge. Man kann nicht einfach ein Hormon nehmen, etwa Östrogen oder Prednisolon, und sagen: Das geben wir jetzt MS-Patientinnen und Patienten. Das hat man schon versucht und das funktioniert nicht ausreichend. Zumal Hormone ja nicht nur die Immunantwort regulieren, sondern zum Beispiel auch den Stoffwechsel verändern. Wir sind daher nur an sehr spezifischen Wirkungen interessiert. Unser Ziel ist es – in Zusammenarbeit mit anderen Forschungsgruppen –, das Zusammenspiel der Mechanismen zu verstehen und gezielt die Vorgänge zu extrahieren, die die Immunantwort positiv regulieren.
Ein tieferes Verständnis kann uns vielleicht auch helfen, der Ursache der MS näher zu kommen – und damit einer der großen unbeantworteten Forschungsfragen. Wir haben zwar große Fortschritte in der Genetik gemacht, aber wir wissen noch wenig über die Umweltfaktoren, die wahrscheinlich eine noch größere Rolle spielen als die Gene. Frauen bekommen zum Beispiel deutlich häufiger MS als Männer, aber es gibt Hinweise darauf, dass Frauen, die viele Schwangerschaften gehabt haben, eine etwas geringere Wahrscheinlichkeit haben zu erkranken. Offensichtlich führen die Schwangerschaften also dazu, dass die Tolerierungsmechanismen des Immunsystems besser funktionieren.
Eine wirksame, gezielte Therapie als langfristiges Ziel
Unser primäres Ziel ist aber vor allem die Entwicklung und die Anwendung einer Therapie, um MS zukünftig noch gezielter zu behandeln. Dabei wollen wir so eingreifen, dass der Schaden am Nervensystem vermindert wird. Allerdings mussten wir feststellen, dass bei MS-Patientinnen und Patienten auch dann Nervenzellen verloren gehen, wenn Medikamente die Entzündungsaktivität abmildern. Die Betroffenen haben – insbesondere bei langer Krankheitsdauer – trotz einer wirksamen Therapie Einschränkungen, etwa beim Sehen oder bei der Beweglichkeit. Das bekommen wir trotz der Medikamente nicht so richtig gut in den Griff. Daher ist ein großes weltweites Forschungsthema bei Multipler Sklerose die Neurodegeneration und die Frage: Wie kann man das Nervensystem widerstandsfähiger machen und vor der Entzündung schützen?
Multiple Sklerose
Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Nervensystem betroffen ist. Aufgrund einer fehlgeleiteten Immunreaktion, deren Ursache noch nicht geklärt ist, kommt es zu Entzündungen im gesamten zentralen Nervensystem, die wiederum verschiedenste Symptome zur Folge haben. Darunter sind Sehverlust, Spastiken, Gefühls- und Gangstörungen, aber auch Einschränkungen der Blasenfunktion oder der Sprechfähigkeit und chronische Erschöpfung (Fatigue). Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen und Verläufe spricht man von der „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“. MS, unter der weltweit rund 2,8 Millionen Menschen leiden, verläuft in den meisten Fällen in Krankheitsschüben, deren Symptome sich durch die Behandlung mit Cortison in der Regel wieder zurückbilden. Mit zunehmender Dauer der Erkrankung wird der Verlauf allerdings meist progredient, das heißt, die Einschränkungen nehmen sukzessive zu. Rund 10 Prozent der Patientinnen und Patienten haben von Beginn an einen solchen Verlauf. Insgesamt sind Frauen doppelt so häufig von MS betroffen wie Männer. MS ist nicht heilbar, allerdings gab es in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Medikamentenforschung, sodass inzwischen mehrere Therapiemöglichkeiten – insbesondere für die schubförmige MS – zur Verfügung stehen.
Welt-MS-Tag
Der Welt-MS-Tag findet jedes Jahr am 30. Mai statt. In Deutschland hat er 2021 – auch durch die Eindrücke der Corona-Pandemie – das Motto „Stay Connected. Wir bleiben in Verbindung!“. Unter dem Hashtag #MSverbindet sollen zahlreiche Betroffene zu Wort kommen und berichten, was ihnen trotz der Diagnose und den widrigen Umständen Hoffnung macht. Mehr Informationen zur Erkrankung und zum Welt-MS-Tag gibt es auch auf der Website der „Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft“ (DMSG).