Die Entstehung der Nikolaus-LegendeWie aus zwei Bischöfen ein „Superheiliger“ wurde
6. Dezember 2019, von Hendrik Tieke
Kleine Kinder glauben fest an den Nikolaus, der am 6. Dezember Geschenke verteilt. Zu Lebzeiten soll er Wunder gewirkt haben, wie sie nur von Jesus überliefert sind – und sein Todestag wurde einst statt Weihnachten gefeiert. Dabei gab es ihn als einzelne Person gar nicht.
Süßigkeiten, Mandarinen oder Walnüsse – kleine Geschenke wie diese finden viele Kinder am Morgen des 6. Dezembers in ihren Stiefeln. „Der Nikolaus war da“, heißt es dann. Wer aber der historische Sankt Nikolaus war, darüber ist wenig bekannt. Prof. Dr. Barbara Müller lehrt Kirchen- und Dogmengeschichte an der Universität Hamburg. Im Interview erklärt sie, wie Fakten, Volksglaube und Heiligenmythen über die Jahrhunderte zu einer fiktiven Über-Person verschmolzen sind.
Was wissen wir über den Heiligen Nikolaus?
Den einen Sankt Nikolaus, der heute Teil unseres Brauchtums ist, gab es nie als einzelnen Menschen. Tatsächlich liegen ihm zwei verschiedene Männer mit dem Namen Nikolaus zugrunde: Einmal der Bischof Nikolaus von Myra aus der heutigen Südtürkei; er lebte im 4. Jahrhundert. Und einmal ein anderer Bischof, der im 6. Jahrhundert ebenfalls in dieser Region lebte – in Sion in der Nähe des heutigen Antalya. Er hieß auch Nikolaus.
Worin unterscheiden sich beide voneinander?
Der erste von beiden, Nikolaus von Myra, war damals schon eine regionale Berühmtheit. Seine Taten wurden wahrscheinlich mündlich überliefert und mit der Zeit ausgeschmückt. Schriftliche Zeugnisse aber gibt es nur von dem zweiten Nikolaus in Form einer kurzen Biografie. Das Schriftstück beschreibt einige Wunder, die er gewirkt haben soll. Weil nun aber der erste Nikolaus damals viel bekannter war, schrieb man diesem auch noch die Wunder des zweiten zu: Der heilige Sankt Nikolaus in Gestalt einer einzigen Person war geboren.
Welche Wunder soll dieser „zusammengebaute“ Nikolaus gewirkt haben?
Seine Wunder ähneln denen von Jesus: Er soll Menschen wieder zum Leben erweckt haben, die ein Wirt aus Habgier getötet hatte. Er soll auch auf wundersame Weise die Kornladung eines Schiffes vermehrt und so eine Hungersnot abgewendet haben. Auf einem weiteren Schiff materialisierte er sich angeblich und besänftigte einen todbringenden Sturm. Und dem römischen Kaiser erschien er im Traum. Das besondere an diesen Wundern ist, dass Sankt Nikolaus sie zu Lebzeiten wirkte. Fast alle anderen Heiligen taten das erst nach ihrem Tod. Er ist damit neben der Jungfrau Maria einer der ganz wenigen „Superheiligen“ der katholischen und der orthodoxen Kirche.
Woher stammt der Brauch, Kindern am Nikolaustag Geschenke in den Schuhen zu verstecken?
Sankt Nikolaus galt immer auch als Schutzheiliger der Kinder. So soll er bitterarme Mädchen vor der Prostitution gerettet haben, indem er im Haus ihres Vaters Goldmünzen versteckte. Auf diese Legende geht der Brauch zurück, Kindern Geschenke in ihre Schuhe zu legen.
Seit wann gibt es am Nikolaustag Geschenke?
Der 6. Dezember gilt als Todestag des Heiligen Nikolaus. Vor der Reformation wurde dann das wichtigste Winterfest im deutschsprachigen Raum gefeiert. Weil Luther die Heiligenverehrung ablehnte, ersetzte bei den Protestanten dann Weihnachten – Christi Geburt – den Nikolaustag als Hauptfest dieser Jahreszeit. Im Laufe der Zeit zogen die Katholiken nach. Im 19. Jahrhundert wiederum feierte der Nikolaustag ein Revival: als Tag der Kinder. Das hing damit zusammen, dass die Kindersterblichkeit rapide sank und Eltern so stärkere emotionale Bande zu ihren Kindern aufbauen konnten. Zum ersten Mal nahm man die Kindheit als eine eigene, besondere Lebensphase wahr.
Stammt aus dieser Zeit das Bild des bärtigen Mannes mit Gabensack?
Schon im Mittelalter wurde Sankt Nikolaus mit Bart und rotem Bischofsmantel dargestellt. Der weiße Rauschebart und die Bommelmütze stammen allerdings von einer globalen Werbekampagne des Coca-Cola-Konzerns aus den 1930er Jahren, mit der das Unternehmen den Weihnachtsmann erfand. Der wiederum ist erkennbar an den klassischen Nikolaus angelehnt, weshalb wohl heutzutage beide im Brauchtum miteinander verschwimmen.
Der Heilige Nikolaus und Hamburg
Der Heilige Nikolaus soll auf so vielen verschiedenen Gebieten Gutes getan haben, dass er in der Forschung als eine Art „Allround-Heiliger“ gilt: für Studierende etwa, für Reisende, Kaufleute, Apotheker, Gefangene, für Prostituierte oder eben für Kinder. Länder wie Russland oder Kroatien sehen ihn als ihren Schutzpatron an. In Hamburg und Norddeutschland ist er auch als Patron der Seefahrt bekannt; so hat ihn der Hansebund als seinen Schutzheiligen erwählt. Deshalb gibt es in fast allen norddeutschen Hafenstädten eine Nikolaikirche. Eine der größten steht in Hamburg: die ehemalige Hauptkirche Sankt Nikolai. Sie war von 1874 bis 1877 das höchste Gebäude der Welt mit einem 147,3 Meter hohen Turm und ist nun ein Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.