„Wer stark belastet ist, sollte sich auf jeden Fall Hilfe holen“Psychiaterin zu den Folgen von Unglücken für die Zeugen
31. Juli 2019, von Anna Priebe
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Viele Reisende wurden am Montag Zeuge, wie ein Mann ein Kind und seine Mutter vor einen einfahrenden ICE stieß. Was bedeutet es, so eine Tat oder schwere Unglücke mitanzusehen? PD Dr. Sarah Biedermann, Oberärztin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Eppendorf über mögliche Folgen und Behandlungsmöglichkeiten.
Wie sieht seelsorgerische bzw. psychiatrische Notfallversorgung in einem Fall wie in Frankfurt aus?
Für solche Fälle ist in Hamburg das Kriseninterventionsteam vom Deutschen Roten Kreuz zuständig, das direkt mit der Polizei vor Ort ist. Es spricht mit Angehörigen und Zeugen, schaut, wer versorgt werden muss und vermittelt auch Kontakte für später. Da kommen wir dann ins Spiel.
Welche unmittelbaren Folgen und auch Spätfolgen für Zeugen sind denkbar?
Die Zeugenschaft bei so einem potenziell traumatischen Ereignis kann zu einer akuten Belastungsreaktion führen. Das kann sich darin äußern, dass die Menschen sich massiv überfordert fühlen mit dem, was sie da gesehen haben. Sie erleben Symptome wie Angst bis hin zur Panik, sind aufgebracht und unruhig. Meist legt sich das nach wenigen Tagen ohne weitere Folgen.
Bei einigen wenigen Betroffenen kann sich auch im Fall einer Zeugenschaft eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Diese kann sich zum Beispiel dadurch äußern, dass sich Bilder, Geräusche oder andere Sinneseindrücke von dem Ereignis den Betroffenen aufdrängen und sie diese nur schwer unterdrücken können. Oft versuchen Betroffene, den Ort des Geschehens oder Erinnerungen daran zu meiden. Das kann sich soweit verallgemeinern, dass eine Person in einem Fall wie in Frankfurt nicht mehr Bahn fahren kann. Zudem sind die Menschen meist übererregt, haben das Gefühl, immer wachsam sein zu müssen, und leiden unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Wenn diese Symptome länger als einen Monat anhalten, können wir eine PTBS diagnostizieren.
Hinterlassen solche traumatischen Ereignisse eigentlich auch sichtbare Spuren im Gehirn?
Zum diesem Thema führe ich gerade ein Forschungsprojekt durch, bei dem wir Menschen nach einer akuten Traumatisierung unter anderem in einem Kernspintomographen untersuchen. Es ist bekannt, dass Menschen mit einer PTBS einen verkleinerten Hippocampus haben. Allerdings ist noch unklar, ob dies ein Risikofaktor oder eine Folge der Erkrankung ist. Zudem konnte festgestellt werden, dass das Erleben von belastenden Ereignissen das Volumen des sogenannte „anterioren Gyrus cinguli“ verändern können, eine Region, die unter anderem bei der Verarbeitung und Steuerung von Emotionen und Lernvorgängen beteiligt ist.
Wovon hängt es ab, ob ein Zeuge durch das Geschehen stark belastet wird oder eher weniger?
Dies kann individuell sehr unterschiedlich sein und trotz intensiver Forschung können wir immer noch nicht sicher sagen, wer im Verlauf psychische Probleme entwickeln wird und wer nicht. Als gesichert gilt inzwischen aber der Faktor der sozialen Unterstützung. Gibt es Menschen, auf die man sich verlassen und mit denen man reden kann? Aber auch die allgemeine aktuelle Lebenssituation und andere belastende Lebensereignisse abseits des Ereignisses scheinen wichtig zu sein.
Die Rate an PTBS nach einer Zeugenschaft ist generell niedrig. Natürlich ist entscheidend, was für eine Art von Trauma es war und wie sehr man involviert ist. Manche Zeugen haben sich vielleicht selbst bedroht gefühlt, andere machen sich Vorwürfe, da sie denken sie hätten das Geschehene verhindern können.
Zudem spielt auch die Bewertung eine Rolle. Denkt die Person hinterher, dass das Geschehen ein Beweis dafür ist, dass die Welt unsicher und gefährlich ist? Oder sieht sie es realistischer als extreme Ausnahmesituation?
Wie können Zeugen die Geschehnisse verarbeiten?
Früher hat man nach solchen Ereignissen teilweise Betroffene und Zeugen zusammengeholt, um ein sogenanntes „Debriefing“ zu machen – also eine große Gesprächsrunde, um das Geschehene zu verarbeiten. Studien haben aber gezeigt, dass das sogar schädlich sein kann.
Personen, die Zeugen wurden, sollen aber natürlich die Möglichkeit haben, über das Erlebte zu sprechen, wenn sie das Bedürfnis danach haben – ob mit Therapeuten oder mit Freunden. Wenn jemand sehr belastet ist und zum Beispiel nicht mehr schlafen kann, können Atem- und Erdungsübungen helfen. Dadurch werden die Betroffenen ruhiger und können den Stress besser managen.
Wer stark belastet ist, sollte sich aber auf jeden Fall Hilfe holen. In einer Therapie kann man zum Beispiel gezielt den Ort des Geschehens wieder aufsuchen und sich den Gedanken stellen. Häufiger stellen sich Patientinnen und Patienten in einer solchen Traumatherapie unter kontrollierten Bedingungen den belastenden Erinnerungen. Vor allem geht es aber darum, den Personen ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit zurückzugeben.
Auch Menschen, die nicht direkt dabei waren, haben jetzt eventuell ein mulmiges Gefühl. Was kann man tun?
Der erste Schritt sollte sein, zu gucken, ob eine reale Gefahr besteht. An einer Bahnsteigkante zu stehen, wenn der Zug einfährt, kann gefährlich sein. Daher ist es sicher gut, da achtzugeben. Gleichzeitig ist es überaus unwahrscheinlich dort tatsächlich zu verunfallen. Wenn sich aber ein Leidensdruck entwickelt und jemand aus Angst versucht, das Bahnfahren zu vermeiden, ist das durchaus ein Anlass sich psychologische oder psychiatrische Hilfe zu suchen.