Viele Erwachsene sind im Alltag sehr eingeschränktProf. Dr. Anke Grotlüschen zu den Ergebnissen der neuen LEO-Studie 2018
7. Mai 2019, von Anna Priebe
Foto: UHH/Ohme
2011 erregte die erste LEO-Studie für Aufsehen: 7,5 Millionen Erwachsene können in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hamburg haben nun die Folgestudie veröffentlicht. Prof. Dr. Anke Grotlüschen, Professorin für Lebenslanges Lernen, zu den neuen Zahlen und den Konsequenzen.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse der aktuellen Studie?
2010 gab es in Deutschland 7,5 Millionen gering literalisierte Erwachsene, 2018 dagegen 6,2 Millionen. Eine wichtige Erkenntnis ist also: Die Situation ist besser geworden – auch, wenn weiter viele Erwachsene im Alltag durch diese Einschränkungen zu kämpfen haben.
Zudem haben wir signifikante Veränderungen festgestellt beim Anteil der Erwerbstätigen, die gering literalisiert sind. Der war vor acht Jahren bei 12,1 Prozent und ist auf 10 Prozent gesunken. Wir haben insgesamt eine deutlich höhere Erwerbsquote, wir haben höhere Bildungsabschlüsse in der Bevölkerung und wir haben ein Zuwanderungsgesetz – das sind starke Faktoren für Literalität.
Was versteht man unter dem Begriff der „eingeschränkten bzw. geringen Literalität“?
Geringe Literalität bedeutet in unserer Studie, dass Erwachsene Texte nicht sinnentnehmend lesen können und sie auch nicht sinnproduzierend schreiben können. Das heißt aber sehr wohl, dass sie einzelne Buchstaben und Wörter können; auch einzelne Sätze können sie erlesen und schreiben. Das allerdings in aller Regel in einer Geschwindigkeit, die zeigt, wie mühsam es für sie ist. Menschen aus dieser Gruppe sagen meist über sich selbst: Ich kann nicht richtig lesen und schreiben.
Auf welche Lebensbereiche wirkt sich die geringe Literalität am meisten aus?
Konkret haben wir uns die Lebensbereiche Gesundheit, Finanzen und Mobilität sowie das digitale und das politische Leben angeschaut. Die Einschränkungen sind dabei vielfältig: Viele gering Literalisierte haben zum Beispiel keinen Führerschein, weil sie die Prüfung nicht absolvieren konnten. Sie nutzen überproportional viel öffentlichen Nahverkehr. Allerdings ist auch das Kaufen eines Fahrscheins schwierig. Die Gruppe der gering Literalisierten bevorzugt deutlich den Erwerb einer Karte am Schalter oder beim Busfahrer.
Im Bereich der Finanzen ist eine große Frage die des Onlinebankings. Es geht nicht nur darum, einen Kontoauszug richtig lesen zu können oder einen Überweisungsträger richtig ausfüllen zu können, sondern es geht darum, sein Geld digital zu verwalten. Auch hier sind diejenigen, die wenig lesen und schreiben können, deutlich weniger beteiligt.
Grundsätzlich ist alles, was formale Kommunikation erfordert, für gering Literalisierte schwierig – auch, wenn sie über digitale Medien stattfindet. Bei der Nutzung von E-Mail- und Textverarbeitungsprogrammen sind Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, deutlich unterproportional vertreten.
Hat die Digitalisierung auch Vorteile?
Wenn es ums Smartphone und soziale Medien geht, sehen wir den Teilhabeausschluss nicht mehr. Sprachnachrichten oder Videotelefonie nutzen gering literalisierte Erwachsene sogar mehr.
Man muss sowieso sagen: Der Glaube, gering literalisierte Menschen seien grundsätzlich sozial abgehängt, trifft nicht zu. Die Quote der Verheirateten in der Gesamtbevölkerung ist mit rund 54 Prozent genauso hoch wie unter den gering literalisierten Erwachsenen. Zudem stehen rund 2/3 der gering Literalisierten im Erwerbsleben.
Wie sind Sie in der Forschung vorgegangen?
Insgesamt wurden 7.192 Menschen zwischen 18 bis 64 Jahren befragt. Es handelt sich um eine sogenannte kompetenzdiagnostische Studie. Wir haben zunächst eine persönliche Befragung durchführt und im Anschluss ein Testheft übergeben. Die Menschen wurden gebeten, die Aufgaben auszufüllen; wir haben die Ergebnisse ausgewertet.
Auch Leute, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist.
Ja, das ist ganz wichtig. Studien zu geringer Literalität werden immer in Bezug auf die Landessprache durchgeführt, also in unserem Fall Deutsch. Damit sind wir aber im Grunde ungerecht zu denjenigen, die in ihrer ersten Sprache lesen und schreiben können.
Von den 6,2 Millionen gering literalisierten Erwachsenen haben 47 Prozent eine andere Herkunftssprache oder sind bilingual mit Deutsch als zweiter Sprache aufgewachsen. Von dieser Gruppe haben wiederum mehr als 80 Prozent eine erste Sprache, in der sie nach eigener Einschätzung anspruchsvolle Texte lesen und schreiben können.
Was bedeuten die Ergebnisse für Weiterbildungsangebote?
Konsequenz aus der Studie ist für mich, für gering literalisierte Erwachsene Weiterbildungen anzubieten, die erstmal nicht den ersten Fokus auf Lesen und Schreiben haben. Wir wissen, dass im Bevölkerungsdurchschnitt 50 Prozent der Erwachsenen schon mal an einer Weiterbildung teilgenommen haben; bei den gering Literalisierten sind es nur 28 Prozent. Und von dieser Gruppe nehmen nur 0,7 Prozent an einem Alphabetisierungs- oder Grundbildungskurs teil.
Ich glaube, daraus muss man Konsequenzen ziehen und neue Zugänge finden; man muss die Menschen abholen – in den Bildungsveranstaltungen, die sie auch besuchen. Zum Teil sind das vorgegebene Weiterbildungen, also etwa Gabelstaplerscheine oder ähnliches, die aufgefrischt werden müssen. Zum anderen sollten neue Angebote zur Weiterbildung speziell die Themen aufgreifen, in denen die geringe Literalität Probleme bereitet, also zum Beispiel Onlinebanking, Steuererklärung oder Altersvorsorge. Da kann man weitergehende Fragen der Alphabetisierung dann einbinden.
LEO-Studie 2018
Die LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg ist die größte und wichtigste repräsentative Studie zu Literalität von Erwachsenen in Deutschland. Sie gibt Aufschluss über Alter, Geschlecht, Herkunft, Familien- und Erwerbsstatus sowie Schul- und Berufsbildung von Menschen mit geringen Lese- und Rechtschreibkompetenzen in Deutschland. Sie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund 180 Millionen Euro gefördert; die Ergebnisse wurden am 7. Mai 2019 in Berlin gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern des Bundesbildungsministeriums und der Kulturministerkonferenz vorgestellt.
Weitere Informationen:
Pressemitteilung der Universität zur LEO-Studie
Pressemappe zur LEO-Studie