Brand in Notre-DameExperten der Universität Hamburg zur Bedeutung der Kathedrale
16. April 2019, von Anna Priebe
Foto: Pixabay.com/Frivolouswhim
Die Bilder der brennenden Kathedrale Notre-Dame in Paris haben Menschen auf der ganzen Welt bewegt. Der Touristenmagnet ist für die französische Hauptstadt mehr als eine Kirche. Vier Experten der Universität Hamburg zum Brand und zur Bedeutung der Zerstörung.
„Die Kathedrale hat sich in das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart eingeschrieben“
Prof. Dr. Marc Föcking, Professor für italienische und französische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg
Der Brand von Notre-Dame lässt kaum jemanden kalt und die weltweite Betroffenheit zeigt, dass die Kathedrale für Paris steht wie sonst vielleicht nur der Eiffelturm. Für die Franzosen ist die Kathedrale das steingewordene Gedächtnis der eigenen Geschichte: Von der ersten christlichen Kirche auf der Île de la Cité im vierten Jahrhundert zum Bau der Kathedrale ab 1163 bis zur ihrer Plünderung und zeitweiligen Funktion als "Temple de la Raison" zur Zeit der französischen Revolution 1793. Auch über ihre literarische Verewigung durch Victor Hugos Roman "Notre-Dame de Paris" 1831 und die zahlreichen Roman-Verfilmungen hat sich die Kathedrale wie kaum eine andere in die Populärkultur und das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart eingeschrieben. Die brennende Kathedrale rührt an dieses Gedächtnis. Aber zerstört ist die Kathedrale nicht, sie ist – wie das immer wieder von Katastrophen erschütterte, aber immer wieder auferstandene Paris in seinem Stadtmotto – "fluctuat nec mergitur" (Von den Wogen geschüttelt, wird es doch nicht untergehen).
„Symbol der Selbstvergewisserung über die eigene Geschichte“
Prof. Dr. Norbert Fischer, Professor am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie
Denkmäler, wie auch die Notre-Dame eines ist, sind zentrale gesellschaftliche Schauplätze von Erinnerung und Gedächtnis. Sie bilden jene Orte, in denen Vergangenheit vergegenwärtigt wird. Dabei unterliegen diese Gedächtnisorte einem Wandel. Sakrale Bauten wie die Pariser Kathedrale, die zu Denkmälern geworden sind, verweisen auf die christlich-abendländische Tradition. Neben ihrer eigentlichen Funktion als Gotteshaus dienen sie als architektonisches Relikt von hoher symbolischer Bedeutung der Selbstvergewisserung über die eigene Geschichte. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs schrieb einmal: „Die Vergangenheit wird Teil der Gegenwart: man kann sie berühren, glaubt sie unmittelbar zu erfahren.“ Daher ist ihre Zerstörung von eminenter gesellschaftlicher Bedeutung.
„Wir sprechen von ‚Biographien‘ von Objekten oder Gebäuden“
Prof. Dr. Peter Schmidt, Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters
In den ersten Presseberichten war mehrmals von der „Zerstörung“ der Kathedrale Notre-Dame die Rede. Nach dem Ende der Löscharbeiten scheint es aber so, als sei wenigstens der architektonische Kern stabil geblieben. Genaueres werden jedoch erst die jetzt folgenden Untersuchungen zeigen. Der Schock, der von diesem gewaltigen Brand ausgegangen ist, ist jedoch bezeichnend für den Status dieser Kirche für das nationale Bewusstsein Frankreichs. Wenn Staatspräsident Macron die Katastrophe für einen Aufruf zum nationalen Zusammenhalt genutzt hat, könnte man darin ein interessantes Echo der historischen Erbauungs- und Rezeptionsgeschichte sehen. Die großen Neubauten von Kathedralen in der Île-de-France im 12. und 13. Jahrhundert – darunter Notre-Dame – kann man zu einem großen Teil als Repräsentationsprojekte einer Allianz des französischen Königtums und der Bischöfe sehen. Schon zur Erbauungszeit setzt die Stilisierung zu Projekten des gesamten Volkes ein, bei denen angeblich sogar die Bauern freiwillig ihre Dienste zur Verfügung gestellt haben sollen.
Die Kathedrale Notre-Dame, so wie sie vor dem Brand zu sehen war, ist keineswegs ein Produkt des 12./13. Jahrhunderts aus einem Guss. Den Zerstörungen während der französischen Revolution, bei der etwa der Skulpturenschmuck erheblich beschädigt wurde, folgte Verfall – bis die Renovierung als nationale Aufgabe propagiert wurde. Ein nicht geringer Teil der heutigen Substanz und Erscheinung von Notre-Dame stammt also aus dem 19. Jahrhundert. Das macht die Verluste des Brandes natürlich nicht weniger tragisch – denn wir sprechen in den Kunst- und Kulturwissenschaften heute aus guten Gründen von „Biographien“ von Objekten oder Gebäuden. Und die enden nicht mit dem Richtfest, sondern bestehen aus permanenter Veränderung und reichen bis in die Gegenwart. Zu solchen Biographien gehören Verfall und Zerstörung, aber auch Wiederentdeckung, Wiederherstellung, Modernisierung, Aneignung in neuen Konstellationen sowie die Entwicklung zu Symbolen der Identifikation.
Was die Ausstattung angeht, befanden sich nach der französischen Revolution nicht mehr sehr viele vormoderne Objekte im Inneren – aber doch sehr bedeutende Werke wie z. B. die Reliefs der Chorschranken. Unschätzbare Objekte – auch im kunsthistorischen Sinn – beherbergte der Kathedralschatz in einem Anbau. Nach den bisherigen Berichten gibt es Hoffnung, dass sie gerettet wurden.
Notre-Dame als Symbol für Französische Geschichte und Gegenwart
Prof. Dr. Philippe Depreux, Professor für Mittelalterliche Geschichte
Als am 15. April 2019 abends die Pariser Domkirche „Notre-Dame“ brannte, twitterte Emmanuel Macron: „Wie alle [französischen] Mitbürger bin ich heute Abend traurig zu sehen, wie dieser ‚Teil von uns‘ (‚cette part de nous‘) in Flammen aufgeht“. Das zeigt: Notre-Dame de Paris ist ein besonderes Monument, nicht nur weil die Grundsteinlegung dieser Kirche mehr als 850 Jahre zurückliegt und sie als Meisterstück der Gotik gilt, dessen „harmonische“ Fassade die Ordnung des Universums wiederspiegeln soll. Sie gehört zum Stadtbild und ist mit mehr als 14 Millionen Besuchern jährlich das meistbesuchte Momument Europas. Auch wenn ihr Bischof nicht der höchste Würdenträger der katholischen Kirche in Frankreich ist, gilt Notre-Dame als ‚die‘ Kirche des Landes. Zum einen wegen ihrer Nähe zum Machtzentrum und weil sie die Hauptkirche der Hauptstadt ist. Zum anderen, weil sie mit vielen wichtigen Ereignissen der französischen Geschichte in Verbindung steht. An diesem Ort wurde beispielsweise im frühen 18. Jahrhundert der Hauptaltar zur Erfüllung eines Gelübdes Ludwigs XIII. errichtet: Um Gott um einen Sohn und Nachfolger zu bitten, hatte der König sein Land der heiligen Jungfrau Maria gewidmet. In Notre-Dame krönte sich Napoléon 1804 zum Kaiser der Franzosen und es wurde am 26. August 1944 die Befreiung von Paris durch einen Gottesdienst gefeiert. In der Pariser Kathedrale fanden zudem die Trauerfeiern mehrerer Präsidenten der Republik im 19. sowie im 20. Jahrhundert statt (zuletzt das Requiem für den Agnostiker François Mitterrand) und es wurde eine Messe zu Ehren der Opfer der Terroranschläge am 13. November 2015 zelebriert. Viele bedeutende, emotionale Ereignisse der französischen Geschichte haben in Notre-Dame ihren Niederschlag gefunden. Doch wohl das deutlichste Zeichen dafür, dass „Notre-Dame“ als das Herz Frankreichs betrachtet werden kann, ist der „point zéro“. Dieser befindet sich auf dem Platz vor der Kathedrale und ist der Ausgangspunkt für die Messung von Entfernungen in ganz Frankreich.