„Unter den Chemnitzer Ereignissen liegt eine ernüchternde Normalität“Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Hentschel zu den Ereignissen in Chemnitz und der „Neuen Rechten“
30. Oktober 2018, von Felix Willeke
Foto: UHH/Schöttmer
Die sogenannte Neue Rechte ist einer der Forschungsschwerpunkte der Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Hentschel. Im Zuge ihrer Arbeit war sie auch Anfang September in Chemnitz, um sich vor Ort einen Eindruck von den Geschehnissen zu verschaffen. Im Interview spricht Hentschel über die Demonstrationen, legt dar, warum ausgerechnet Sachsen und Sachsen-Anhalt Schauplätze waren, und reflektiert über die Strategien der „Neuen Rechten“.
Frau Hentschel, Sie beschäftigen sich schon lange mit Rechtspopulismus und den Ideologien der „Neuen Rechten”. Haben Sie vor diesen Hintergrund die Ereignisse in Chemnitz und später auch in Köthen überrascht?
Ja, mich hat die Vehemenz der Reaktionen vor Ort überrascht: wie schnell sich Tausende aus der rechten Szene mobilisieren ließen, wie sich eine ganze Stadt in eine Krise gestürzt hat und natürlich die politischen Auswirkungen bis hin zur Bundesebene. Unter den Ereignissen liegt aber eine ernüchternde Normalität: beispielsweise die alltäglichen Anfeindungen, von denen migrantische Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt berichten. Bestürzend war es auch, zu beobachten, mit welcher Selbstverständlichkeit auf die extrem-rechte Gesinnung der Teilnehmenden angespielt wurde: etwa wenn die Organisatoren einer Pro-Chemnitz-Demonstration den Teilnehmenden am Anfang nahegelegen, den rechten Arm „anzubinden“ – sprich sich Hitlergrüße, zu denen „man“ vielleicht den Impuls spüren würde, für andermal aufzuheben. Diese offen zu Schau getragene „Normalität“ ist alarmierend.
Erkennen Sie in diesem Zusammenhang eine Strategie der „Rechten“?
Insgesamt zeigen sich in den Ereignissen von Chemnitz verschiedene Strategien der „Neuen Rechten“. Auf der einen Seite das Zusammenspiel von Ästhetisierung und Verrohung. Schauen Sie sich hier zum Beispiel die Bildsprache und Dramaturgie beim sogenannten Trauermarsch von Chemnitz an: die vorderen Reihen in schwarzen Anzügen, mit weißen Rosen angesteckt – ein Symbol des Widerstandes gegen das NS-Regime, der immer wieder von der Rechten für sich vereinnahmt wird. Auf der anderen Seite die Übergriffe und Hetzparolen im Kontext der Demonstration. Hinzu kommt die exzellente Vernetzung rechter Akteure und Gruppen. Im Trauermarsch haben wir in aller Öffentlichkeit eine Zurschaustellung dieser Schulterschlüsse erlebt: Björn Höcke von der AfD, Lutz Bachmann von Pegida, Martin Sellner von der Identitären Bewegung Österreich und Götz Kubitschek von ihm mitgegründetem „Institut für Staatspolitik“, daneben polizeibekannte Neonazis. Damit in Verbindung steht die sich wandelnde Beziehung zwischen rechtspopulistischen Gruppen und den selbst ernannten Intellektuellen der Szene. Der „Identitäre“ Martin Sellner beispielsweise beschwört in seinen Videobotschaften den „Zorn der jungen Männer“ herauf und ruft seine Zuschauer dazu auf, nach Chemnitz zu fahren, um sich am Trauermarsch zu beteiligen, und dokumentiert seine eigene Anfahrt aus Wien per Video. Diese Verbindungen zwischen Rechtsintellektualismus und Rechtspopulismus gilt es für die Sozialwissenschaft erst einmal zu entziffern. Dabei geht es auch darum, zu verstehen, wie die angeblich Elitenfeindlichen auf der Straße bestimmte Figuren verehren, die wiederum keinen Hehl aus ihrer Verachtung für „die Massen“ machen, während sie gerade diese erfolgreich mobilisieren.
Medial steht immer wieder der Osten Deutschlands bei dieser Thematik im Fokus, zu Recht?
Ja, weil sich hier deutlich mehr Übergriffe auf nicht weiß-aussehende Menschen als im Bundesdurchschnitt zutragen. Für fremdenfeindliche Bündnisse existiert eine stabile Mobilisierungsbasis. Einige der genannten rechten intellektuellen Gruppen, wie das Institut für Staatspolitik in Schnellroda oder die Identitäre Bewegung in Halle und Rostock, haben hier ihre Zentralen aufgebaut. Die rechten Intellektuellen feiern Ostdeutschland für seine „heldenhafte“, „ehrliche“, „wilde“, „widerständige“ Art, als „Kraftquelle“ für Deutschland, gar als „Avantgarde der Demokratie“.
Diese Lobpreisungen sind natürlich viel angenehmer zu hören als mediale Zuschreibungen wie: „Dunkeldeutschland“, „braun“, „demokratisch minderbemittelt“. Dabei wird an den lang etablierten Opferdiskurs der DDR angeknüpft. Dieser lautete: „Wir sind antifaschistisch und zwar schon immer, wir waren auf der Seite der Unschuldigen, der Opfer.“ Hinzu kommt das Erwähnen der Mitwirkung an der friedlichen Revolution von 1989, im Sinne von „Wir waren schon 1989 da, wir haben damals gegen ein Regime gekämpft, was uns ignoriert hat, uns einschüchtern wollte, und jetzt sind wir wieder hier auf der Straße, aber diesmal vollenden wir die Revolution“. Hier liegt gleichzeitig ein legitimierender wie drohender Unterton. Insgesamt sind die Entwicklungen in Ostdeutschland Teil eines globalen Trends des Autoritarismus, indem sich die Weißen gern als „Opfer eines umgedrehten Rassismus“ stilisieren, wie wir es von Trump immer wieder vernehmen.
Was kann gegen derartige Vorfälle und Tendenzen getan werden?
Zuerst müssen alle rechtlich möglichen Mittel ausgeschöpft werden. In einem zweiten Schritt muss in Sozial- und Bildungspolitik investiert werden, um etwa Freizeitangebote für Jugendliche nicht den Rechten zu überlassen. An der Universität können wir Lehrenden dafür sorgen, dass eine genaue und kritische Analyse von regressiven, antidemokratischen und antihumanistischen Tendenzen in den Seminardiskussionen einen wichtigen Platz haben. Für den politischen Diskurs ist die Herausforderung aber noch komplexer: Ein Appell an Vernunft, Mäßigung und Wahrheit reicht in unseren Zeiten nicht mehr aus. Dass Martin Schulz von der SPD während der Generalaussprache im Bundestag sich gegen die AfD lauthals empört hat, hat zum Beispiel viele Menschen beeindruckt. Insgesamt geht es darum, die Bilder und Botschaften zu verändern, die wir mit Themen wie Migration, Sicherheit oder Demokratie verbinden. In einer Zeit, in der die „Neue Rechte“ erfolgreich große Visionen entwirft, ästhetisch klug die Menschen mobilisiert, müssen die Demokratinnen und Demokraten sich entscheiden, ob sie alles Emotionale weiterhin als populistisch verwerfen oder selbst, auf ihre Weise mit so etwas wie Hoffnung, Solidarität, Vision, Mut, aber auch Ästhetik, Spaß und Coolness arbeiten. Demonstrationen wie „Unteilbar“ im Oktober in Berlin und davor die „We’ll come united“ Kundgebung in Hamburg geben einen Eindruck von diesem Potential.