Nach Chemnitz und Köthen: Was kann gegen die Radikalisierung der Gesellschaft helfen?
17. Oktober 2018, von Giselind Werner
Foto: UHH/Luc
Die Choreografie ist immer gleich: Nach Ausschreitungen wie in Chemnitz diskutieren die Menschen Ursachen, Wirkung und wie man mit der Gewalt auf der Straße angemessen umgeht. Doch was genau tut der Staat gegen die schleichende Radikalisierung unserer Gesellschaft? Welche Programme gibt es bereits und wie erfolgreich sind sie? Wir sprechen mit den beiden Radikalismus-Forschern Dr. Martin Kahl und Maik Fielitz vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die Ausschreitungen gegen vermeintliche Fremde in Chemnitz und Köthen?
Fielitz: Die Ausschreitungen in Chemnitz und Köthen entstanden aus einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Auf der einen Seite haben sich bei manchen Menschen schon lange abwertende Haltungen gegen Menschen mit anderer Herkunft und Hautfarbe verfestigt. Gekoppelt mit Verlusterfahrungen und biografischen Brüchen können sich Abstiegsängste gegenüber als fremd wahrgenommene Gruppen entladen, die für die eigene Misere verantwortlich gemacht werden.
Allerdings ist das Ausmaß der Übergriffe nur durch eine starke Mobilisierungskraft der rechten Szene möglich gewesen. Innerhalb weniger Stunden reisten in Chemnitz rechtsextreme Kader und Hooligans aus dem ganzen Bundesgebiet an. Sie wollten ein Fanal inszenieren, es sollten Angstzonen für Menschen mit anderer Herkunft geschaffen werden.
Kahl: Neben allgemeineren Beweggründen spielen konkrete Auslöser eine wichtige Rolle. Es gehört zur Strategie der rechten Szene, Straftaten von Flüchtlingen zur Mobilisierung zu nutzen – oft in Verbindung mit falschen Darstellungen zu den Umständen der Taten. Die eigene Gewalt wird dann als Selbstverteidigung gerechtfertigt. Kurz: Solche Ereignisse werden propagandistisch geschickt ausgenutzt, es werden Emotionen stimuliert, Ängste geschürt und das Geschehene in ein größeres migrationsfeindliches Narrativ einbaut.
In Chemnitz kam zudem noch hinzu, dass zustimmende bzw. entschuldigende Bezugnahmen der AfD auf die Übergriffe eine katalysierende Wirkung hatten und sich die Hooligans und Gewalttäter in ihrem Vorgehen erst recht bestätigt fühlen konnten.
Die Demonstrationen lassen vermuten, dass sich politische Haltungen vermehrt radikalisieren. Welche Formen von Präventionsprogrammen gegen diese Tendenzen gibt es derzeit? Und was davon ist besonders wirksam?
Kahl: Grundsätzlich unterscheidet man in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Die primäre zielt darauf ab, den allgemeinen Entstehungsbedingungen von Extremismus entgegenzuwirken. Dies umfasst den breiten Bereich der Vermittlung von Werten und einer gewaltfreien Lösung von Konflikten. Hier sind die Bildungsträger wie die Schulen und die Jugendhilfe von besonderer Bedeutung. Die Prävention ist Aufgabe aller Akteure in den Schulen. Hier und in der Jugendhilfe gibt es zahlreiche Einzelprogramme und Projekte. Daneben gibt es viele nicht-staatliche Initiativen in der Jugend- und Kulturarbeit.
Bei der sekundären Prävention geht es um Maßnahmen, wenn bereits manifeste Probleme vorliegen. Das können etwa Fortbildungen für Lehrkräfte im Bereich Radikalisierung sein oder die Vermittlung von Handlungsoptionen in konkreten Konfliktsituationen. In Betracht kommen aber etwa auch Veranstaltungen mit „Aussteigern“. Zur sekundären Prävention wird auch die Angehörigenberatung durch entsprechende Beratungsstellen gezählt.
Maßnahmen und Programme in der tertiären Prävention richten sich an Personen, die sich bereits im Prozess der Radikalisierung befinden oder die sich schon radikalisiert haben. Interventionen in diesem Stadium sollen den Weg in die Radikalisierung unterbrechen oder den Ausstieg aus extremistischen Gruppierungen unterstützen. Ein Mittel hierbei ist die Distanzierungsarbeit.
Die Wirksamkeit der unterschiedlichen Präventionsformen lässt sich nicht miteinander vergleichen, da sie unterschiedlichen Zielsetzungen folgen. Eine Beratung von Angehörigen, die sich Sorgen machen, dass sich ein Familienmitglied einer extremistischen Gruppierung anschließen könnte, kann man nicht mit universeller Prävention in den Schulen gleichsetzen. Alle Präventionsformen sind wichtig, ihnen sollte aber jeweils ein überzeugendes Konzept zu Grunde liegen.
Fielitz: Rechtsextremismus sollte bestenfalls im Jugendalter begegnet werden, da viele Menschen bereits in jungem Alter in Kontakt mit rechtsextremem Gedankengut kommen, aber auch noch nicht so gefestigt sind, dass sie ihre Meinungen nicht revidieren können. Hier gibt es viele sozialpädagogischen Projekte, die Jugendliche auf Gefahren hinweisen und sie sensibilisieren. Später wird es schwer, an potenzielle Rechtsextreme heranzukommen. Daher gilt die meiste Aufmerksamkeit der Prävention durch politische Bildung in den Betrieben und Vereinen.
Was jüngst zudem immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, sind Formen des Online-Streetworkings, das rechte Hassrede im Internet zu demaskieren versucht, so dass sie nicht unwidersprochen gelassen wird. Einrichtungen wie die Amadeu Antonio Stiftung leisten in diesem Feld bereits Pionierarbeit. Allerdings müsste noch viel mehr Personal aus Schulen und Jugendclubs ausgebildet werden, um intervenierend tätig zu werden. Letztendlich kann Prävention nicht von einer kritischen Erziehung getrennt werden. Demokratieförderung ist die beste Radikalisierungsprävention.
Inwiefern kann man von anderen Ländern lernen?
Fielitz: Rechtsextreme Wahlerfolge und Mobilisierungen auf den Straßen sind in ganz Europa trauriger Alltag geworden. Länderübergreifend zeigt sich, dass die Bewegungen transnationaler auftreten und gegenseitig voneinander lernen. Auf der Präventionsebene gibt es hingegen weniger Austausch.
Was wir allerdings lernen können, ist, dass rechtsextreme Akteure immer dann stark werden, wenn ihnen Plattformen gegeben werden und die rechten Positionen von Parteien aus der Mitte reformuliert oder sogar übernommen werden.
Historisch gesehen hat es am besten funktioniert, klare Trennlinie zu ziehen und Rechtsradikale politisch an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Leider wird das europaweit viel zu selten umgesetzt.