Russland nach der WM 2018 – verändert hat sich wenigInterview mit der Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Heller
12. Oktober 2018, von Felix Willeke
Foto: UHH/Schöttmer
Am 13. Oktober ist es 90 Tage her, dass Frankreich in Moskau Weltmeister wurde und Deutschland sich noch über das Aus in der Vorrunde wunderte. Eine Weltmeisterschaft, die noch nie so viele teilnehmende Mannschaften hatte und die FIFA-Präsident Gianni Infantino später als die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten bezeichnete. Doch was bleibt drei Monate danach? Darüber haben wir mit der Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Heller gesprochen.
Frau Heller, Sie hatten uns anlässlich der Fußball-WM in Russland im Juli 2018 ein Interview zur politischen und gesellschaftlichen Rolle des Landes gegeben. Seit der WM sind nun 80 Tage vergangen. Hat sich in Bezug auf die politische Rolle Russlands etwas verändert?
Außenpolitisch sehe ich keine nennenswerten Veränderungen. Russland erscheint insgesamt präsenter und einflussreicher, das ist aber nicht der WM geschuldet, sondern ein längerer Prozess und Folge der aktuellen weltpolitischen Dynamiken und Verwerfungen. Zum „Westen“ sind die Beziehungen weiterhin belastet, etwa durch die bestehenden wechselseitigen Sanktionen oder Moskaus mutmaßliche Einmischung in den US-Wahlkampf.
Innenpolitisch sehe ich ebenfalls kaum Veränderungen; es ist eher ein Zurück zu einem „business as usual“. Ich gehe davon aus, dass es während der WM eine von oben verordnete Offenheit und Zurückhaltung von Polizei und Sicherheitsbehörden gegenüber Rechtsverstößen im öffentlichen Raum gegeben hat. Zwar wurde vor der WM das Versammlungsrecht gesetzlich verschärft – es ist beispielsweise mittlerweile jegliche unangemeldete Zusammenkunft von mehreren Personen in öffentlichen Räumen verboten –, jedoch konnten sich größere Fangruppen spontan zusammenfinden. Diese Verschärfungen bleiben nun bestehen, weswegen ich davon ausgehe, dass die Offenheit und Zurückhaltung seitens der Polizei nur temporär war.
Auch finanziell ist die WM für die Bevölkerung kein nachhaltiger Gewinn. Sie mag kurzzeitig zu höheren Einnahmen durch Fußballtouristen geführt haben, die enormen Kosten der WM werden aber vom russischen Staat nicht aufgefangen. Vor allem die Stadien in der Provinz, wo zum Teil nicht einmal professionelle Fußballvereine existieren, müssen weiterhin unterhalten werden.
Hat sich die Gesellschaft in Russland seit der WM verändert? Und gilt das auch für den Blick „des Westens“ auf Russland?
Ich denke, dass im Land selbst vor allem ein Bewusstsein dafür entstanden ist, wie ein offeneres Russland aussehen kann. Die Menschen haben durch die mediale Aufmerksamkeit gemerkt, dass in der Außenwahrnehmung offensichtlich das Bedürfnis besteht, vom Leben der „normalen Menschen“ zu erfahren und Russland nicht immer mit dem politischen Regime gleichzusetzen. Hier schließt auch die Veränderung in der Außenwahrnehmung an. Die Berichterstattung war nicht nur auf die Politik beschränkt und hat „ganz normale Menschen“ gezeigt und damit geholfen zu verstehen, dass es in Russland eben auch die Menschen gibt, die in ihrem alltäglichen Leben vielleicht gar nicht so anders sind als wir in Deutschland beispielsweise.
Gab es während der WM auf politischer Ebene Entscheidungen, die „im Schatten der WM“ getroffen wurden?
Wenn es eine wichtige politische Entscheidung während der WM gab, dann war es die Reform des Rentensystems. Ein heikles Projekt, das im schlimmsten Fall den geballten Zorn der Bevölkerung gegen die Regierung in Moskau und damit eine Regimekrise wie die von 2011/12 hätte hervorrufen können, denn es sollte unter anderem eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 65 Jahre bei Männern und von 55 auf 63 Jahre bei Frauen beschlossen werden. Die Reform „im Schatten der WM“ zu beschließen ist schließlich nur teilweise aufgegangen: Angesichts massiver Proteste gegen die Reform ist das Gesetz, vor allem bei den Regelungen des Renteneintritts für Frauen, deutlich entschärft worden.
Wird es für Russland weiterhin interessant sein, sich für derartige Veranstaltungen zu bewerben?
Sicherlich. Russland gilt im postsowjetischen Raum durch die Geschichte und die kulturelle Verflochtenheit zum Teil als Vorbild. Ansonsten übt das Land nur auf sehr wenige Menschen im internationalen Kontext politische, normative oder gesellschaftliche Anziehungskraft und Attraktivität aus. Somit braucht Russland andere Mechanismen, um sein internationales Image aufzupolieren und Anerkennung zu generieren. Sportliche Großereignisse sind dafür ideal, auch wenn sie, wie in diesem Fall, für die Bevölkerung keinen nachhaltigen Gewinn, insbesondere finanzieller Art, bedeuten.
Welche Resonanz darauf wäre in der Bevölkerung zu erwarten?
Die russische Bevölkerung versteht sehr gut, dass solche Bewerbungen weniger darauf zielen, etwas für die Menschen zu tun, sondern vor allem als politische Prestigeprojekte dienen. Gerade deshalb sind die Menschen aber auch sehr gut darin, solche Events als „Möglichkeitsfenster“ zu nutzen, um das zu tun, was sonst nicht möglich ist. Jedoch zeigt sich am Umgang mit dem „Pussy Riot“-Aktivisten Pjotr Wersilow, wie unnachgiebig die Behörden gegenüber Regimekritikern sind. Wersilow war als Polizist verkleidet mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten beim WM-Finale auf den Platz gelaufen und wurde im Anschluss mutmaßlich vom russischen Geheimdienst vergiftet.