Was passiert, wenn die Koalition an der Asylpolitik scheitert?Interview mit Prof. Dr. Kai-Uwe Schnapp zu möglichen Konsequenzen eines Bruchs von CDU und CSU
28. Juni 2018, von Giselind Werner
Foto: privat
Seit Tagen schaut die Nation auf den offen ausgetragenen Machtkampf zwischen der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU), die sich in der Frage der Asylpolitik nicht einig sind. Seehofer fordert, dass die Grenzen Deutschlands für Geflüchtete, die bereits in anderen EU-Ländern registriert sind, geschlossen bleiben. Angela Merkel wünscht eine EU-einheitliche Lösung und wirbt dafür bei den anderen EU-Staaten. Im Interview ordnet Politikwissenschaftler Prof. Dr. Schnapp den Asylkonflikt und mögliche Folgen ein.
Worin sehen Sie den Kern der Meinungsverschiedenheit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer?
Die Frage ist m.E., ob es wirklich um Meinungsverschiedenheit geht, oder ob es um einen Aufstand der CSU gegen Angela Merkel und ihre Politik im Zusammenspiel mit einer Positionierung im bayerischen Wahlkampf geht. Wenn Letzteres der Fall ist, und das ist für mich die plausiblere Einschätzung der Situation, dann wäre jedes Thema recht gewesen, die Auseinandersetzung zwischen der CDU und der Kanzlerin zu eskalieren.
Warum nimmt die CSU in Kauf, dass es darüber zum Bruch mit der Schwesterpartei CDU kommen könnte?
Inzwischen stellt sich die Frage für mich anders – nicht: „Warum nimmt die CSU das in Kauf?“, sondern: „Zielt die CSU offen auf den Bruch mit der CDU?“ Wenn moderate Kräfte in der Partei überwiegen, also solche, die sich vor allem an christlich-humanistischen Werten orientieren, dann wird es nicht zu einem Bruch kommen.
Überwiegen aber nationalkonservative Kräfte mit einem ausgeprägten Interesse an Themen wie innere Sicherheit, Identitätsbewahrung und nationale Eigenständigkeit, dann kann das anders aussehen.
Ich halte es für sehr plausibel, dass sich so orientierte Teile der CSU in ihren Positionen durch Entwicklungen andernorts in Europa, wie etwa in Polen, Ungarn, Österreich, aber auch in Großbritannien, gestärkt sehen und ermutigt fühlen. Und es könnte eine Überlegung sein, dass man diese Positionen konsequenter umsetzen kann, wenn man nicht mehr in Abstimmung mit der CDU agieren muss. Wenn dem so ist, dann wäre der Bruch nicht „in Kauf genommen“, sondern angestrebt.
Welche Folgen kann es für die deutsche Innenpolitik haben, wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Grenzen schließt – und damit gegen das EU-Abkommen von Dublin verstößt? Welche Optionen hätte die Bundeskanzlerin Merkel dann?
Söder kann die Grenzen nicht schließen, denn die Bewachung der Bundesgrenze ist Aufgabe des Bundes. Würde Seehofer als Bundesinnenminister die angekündigten Rückweisungen vornehmen und das gegen den expliziten Willen der Kanzlerin tun, dann würde die Kanzlerin nicht umhinkommen, ihn aus dem Kabinett zu entlassen.
Die Kanzlerin hat nach dem Grundgesetz die sogenannte Richtlinienkompetenz. Das ist ein Instrument, da ist sich die Forschung einig, das fast nie formal genutzt wird, weil die deutsche Politik darauf setzt, gütliche Einigungen zu erzielen.
Aber die Kanzlerin kann mit der Richtlinienkompetenz im Rücken sagen: „Ich will das nicht, ich will eine europäische Einigung.“ Vor dem Hintergrund der Verfassung würde das heißen: In Nutzung ihrer Richtlinienkompetenz gibt sie vor, was die Regierung bzw. der Innenminister machen bzw. nicht machen soll. Würde Seehofer diese „Weisung“ ignorieren, müsste Merkel ihn als Minister entlassen.
Als Folge würde die CSU wohl aus der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU und damit auch aus der Koalition austreten.
Was wären die Folgen einer Spaltung der Fraktion?
CDU und CSU würden dann ab sofort getrennte Wege als Parteien gehen. Die CDU könnte auch in Bayern zu Wahlen antreten, die CSU in den 15 anderen Bundesländern. Dass dies bislang nicht passierte, beruht ja nur auf einer Einigung der beiden Parteien. Folgen hätte das in Bayern wie im Bund.
Gehen wir zuerst nach Bayern und schauen auf die kommende Landtagswahl: Die CSU liegt in den Umfragen momentan um die 40%, teilweise etwas darüber. Mit so einem Stimmenanteil erreicht sie nur eine absolute Mehrheit, wenn knapp 20% der Stimmen an Parteien gehen, die unter der 5%-Hürde bleiben, sonst nicht.
Tritt die CDU in Bayern an, wird der CSU-Anteil in jedem Falle geringer. Sagen wir vorsichtig, die CDU hätte ein Potenzial von 5% bis 10% der abgegebenen Stimmen, genaue Zahlen hat im Moment niemand. Nicht alle diese Stimmen kämen von der CSU, einige vielleicht auch von der SPD. Aber in jedem Falle würde es für die CSU weniger. Sie braucht also einen Koalitionspartner. Und die CDU, von der sie sich in Berlin gerade getrennt hat, wäre programmatisch wohl die am nächsten liegende Partei. Das wäre dann wohl das, was man „absurde Situation“ nennt.
Im Bund würden mit der Spaltung nicht mehr sechs, sondern sieben Fraktionen im Bundestag sitzen mit ganz neuen Koalitionsoptionen. Für Grüne und CDU wird es wesentlich leichter zu koalieren, wenn die CSU nicht dabei ist. Das würde momentan nicht reichen, aber die Zahl der Optionen, die funktionieren, würde steigen.
Die zusätzliche Partei oder eher die Abnahme an Blockadepositionen, die es in der Unionsfraktionsgemeinschaft gab, würde das Regierungsbilden m.E. sogar wieder etwas erleichtern.
Für die CSU wäre sehr wahrscheinlich die Folge, dass sie von außen zuschauen darf, wenn es ums Regieren geht. Die CSU weiß das alles. Es ist einerseits schwer vorstellbar, dass sie eine solche Entwicklung riskiert. Vor dem Hintergrund der oben vorgebrachten Einschätzungen bin ich im Moment allerdings nicht so sicher, welche Handlungsoption aus Sicht der CSU attraktiver aussieht.
Sind Neuwahlen dann noch vermeidbar?
Sie sind weder unvermeidbar noch zwingend. Neuwahlen können in Deutschland nicht einfach so stattfinden, denn der Bundestag kann sich nicht selbst auflösen. Der einzige Weg, das Parlament aufzulösen ist, dass die Kanzlerin die Vertrauensfrage stellt und keine Mehrheit findet.
Dann kann der Bundespräsident Neuwahlen anberaumen. Die Kanzlerin muss aber die Vertrauensfrage nicht stellen. Sie kann die Verhältnisse, zumindest eine Weile, ignorieren. Dass Frau Merkel das tun würde, halte ich für unwahrscheinlich, allein schon, weil sie ja alles daran gesetzt hat, nicht in einer Minderheitskonstellation zu regieren. Stellt sie also die Vertrauensfrage, so könnte es auch passieren, dass die Kanzlerin eine solche Abstimmung gewinnt, weil etwa die Grünen für die Kanzlerin stimmen. Auch dann gäbe es keine Neuwahlen, sondern nur eine neue Regierungskonstellation. Für sehr unwahrscheinlich halte ich dagegen, dass es ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Merkel gibt, denn ich sehe nicht, hinter welcher Person aus einer anderen Partei sich eine Regierungsmehrheit zusammenfinden sollte.
Bei all den Möglichkeiten ist die Frage der Legitimität dieser Wege noch nicht angesprochen. Die ist aber auch schwer zu beantworten. Während Italien sehr daran gewöhnt ist, innerhalb einer Legislaturperiode viele Regierungen zu haben, kennen wir Deutschen solche Wechsel kaum. Und wenn mal einer stattfand, dann gab es kurz danach doch Neuwahlen, wie bei Kohl 1982.
Wir können also nur schlecht einschätzen, wie die Deutschen ein wie auch immer geartetes Weiterregieren aufnehmen würden. Sicher ist wohl nur, dass AfD und CSU dann massiv Stimmung gegen die so im Amt bleibende oder ins Amt kommende Regierung machen würden.
Das alles bleibt sehr spekulativ. Politik ist heute, man schaue sich einmal in der Welt um, sehr volatil. Wir können vorab sagen, was formal geht und welche unterschiedlichen Entwicklungspfade plausibel sind. Was die Akteure am Ende aber wirklich tun, das wissen wir immer erst hinterher und können es erst dann analysieren.
Wie Hegel schon sagte: Die Eule der Weisheit beginnt ihren Flug erst, wenn die Dämmerung über den Tag hereinbricht. Erst dann erkennt sie, was der Tag gebracht hat, was geschehen ist. Sie ist eben eine Eule der Weisheit, nicht der Weissagung.