Geschichten aus dem „Jet-Age“Wie das Fliegen die Welt verändert hat
31. Januar 2025, von Christina Krätzig
Die einen hält Flugscham am Boden, die anderen düsen im Privatjet von Hamburg nach Sylt. Lauren Stokes, Professorin für deutsche Geschichte an der Northwestern University in den USA, erkundet die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen des Fliegens. Als „Advanced Fellow“ lebt und forscht sie derzeit an der Exzellenzuniversität Hamburg.
Prof. Stokes, für Ihr geplantes Buch erkunden Sie die Auswirkungen des sogenannten Jet-Zeitalters in Europa anhand von sieben Figuren. Darunter sind Geschäftsreisende, Flüchtlinge und sogar Flugzeugentführer. Handelt es sich um reale Personen, die Sie interviewen?
Nein. Das wäre auch schwierig, denn eine Figur ist nicht einmal ein Mensch, sondern ein Frachtcontainer. Es handelt sich um Archetypen, die ich nutze, um Veränderungen in bestimmten Bereichen der Luftfahrtindustrie darzustellen. Beispielsweise schaue ich auf eine kurze Zeitpanne in den 1980er-Jahren, als Hunderttausende versuchten, an Flughäfen Asyl für westeuropäische Länder zu beantragen. Sogenannte Flughafen-Visa wurden Teil der Reisemaschinerie und in den Zielländern gerieten Flughafenpastoren in Konflikte mit der Obrigkeit, weil sie Einwanderinnen und Einwanderer unterstützten. Einige dieser Menschen lebten Wochen, Monate oder sogar Jahre in Transitlounges – bis neue Gesetze diese Form der Einwanderung unterbanden. Und so kommt es, dass heute wieder Menschen in Booten das Bild von Flüchtlingen prägen, wie schon vor dem Zeitalter der Jets.
Haben Sie eine Lieblingsfigur unter den von Ihnen gewählten Archetypen?
Sie alle zeigen bedeutende Veränderungen oder Wendepunkte in der Geschichte. Manche, wie zum Beispiel der Flugzeugentführer, sind ziemlich exotisch. Aber ich persönlich finde den zunächst einmal viel gewöhnlicher erscheinenden Geschäftsreisenden am spannendsten. Für ihn – und tatsächlich ist es meistens ein „Er“ – ist das Fliegen noch alltäglicher als für Touristen. An seinem Beispiel zeichne ich unter anderem den kometenhaften Aufstieg der Privatjet-Industrie nach: eine Branche, die es bis in die 80er-Jahre fast nicht gab. Bis heute ist wenig über sie bekannt, obwohl Fluglinien wie Hamburg-Sylt oder Paris-Nizza zu den meistfrequentierten in Europa gehören. Sie werden fast ausschließlich von Privatjets genutzt.
Diesem Vielflieger stellen Sie in ihrem geplanten Buch auch zwei Nichtflieger gegenüber, richtig?
Ja. Ich betrachte zum einen die heterogene und teilweise ziemlich anarchistische Gruppe der Anti-Flughafen-Aktivistinnen oder Aktivisten. Mit ihren Protesten – beispielsweise in Frankfurt oder Nantes – haben sie unsere Welt ebenfalls verändert. Nicht nur, weil sie versucht haben, den Aus- oder Neubau von Flughäfen zu verhindern, sondern weil sie schon in den 80er-Jahren einige der problematischen Umweltaspekte der Luftfahrtbranche öffentlich gemacht haben. Das hat beispielsweise zum dem heute an den meisten europäischen Flughäfen verbreiteten Nachtflugverbot geführt – und zur Entstehung meiner zweiten Nichtflieger-Gruppe: den Menschen, die Flugscham empfinden. Sie verzichten auf das Fliegen, um ihren persönlichen CO2-Fußabdruck zu reduzieren.
Wie ist Ihre persönliche Meinung dazu?
Ich kenne sowohl in den USA als auch in Deutschland Menschen, die nicht mehr fliegen. Für mich persönlich wäre das aber schwierig: Als Amerikanerin, die in Europa forscht, gehöre ich zu den zwei Prozent der Weltbevölkerung, die regelmäßig international fliegen – wenn auch nicht zu dem einen Prozent, die für die Hälfte aller globalen Luftfahrt-Emissionen verantwortlich sind. Doch die Proteste von jungen Umweltschützerinnen und -schützern haben mich zu meinem Buchprojekt inspiriert. Indem ich die Veränderungen erkunde, welche das Jet-Age mit sich gebracht hat, nähere ich mich auch der Frage, wie eine Welt ohne Flugreisen aussehen würde.
Das Förderprogramm „Advanced Fellowships“ gibt Ihnen die Möglichkeit, fast ein Jahr lang ungestört an Ihrem Buchprojekt zu arbeiten. Wie nutzen Sie diese Zeit?
Vor allem ist es großartig, abseits des normalen Alltags so konzentriert schreiben zu können. Zudem sind für mich von Hamburg aus viele europäische Archive erreichbar. Kürzlich habe ich beispielsweise das Frankfurter Flughafenarchiv besucht, mit großem Erkenntnisgewinn. Und ich lasse mich von der Stadt selbst inspirieren. Häfen wie der Hamburger Hafen waren ja generell Vorbilder für Flughäfen. Der Hamburger Freihafen wurde sogar zum Vorläufer des ersten zollfreien Flughafens der Welt, der 1947 in Irland eröffnet wurde. Über so etwas kann ich am besten schreiben, wenn ich mit meinem Laptop in einem Café mit Blick auf den Hafen sitze.
Förderprogramm „Advanced Fellowships“
Die Exzellenzuniversität Hamburg finanziert jährlich Fellowships für exzellente Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler am Hamburg Institute für Advanced Study (HIAS). Diese können mehrere Monate in Hamburg leben und arbeiten, ihre Forschungsfragen im Austausch mit Hamburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfolgen und ihr Netzwerk stärken. Bewerbungen für das akademische Jahr 2026/27 können bis zum 31. März 2025 eingereicht werden.