Forschungsprojekt für experimentelle DigitalisierungstechnikenNeues Leben für ein historisches Jerusalemer Gästebuch
21. Januar 2025, von Jakob Hinze
Foto: UHH/Schirrmeister
Das Gästebuch von Miryam und Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl ist ein schmaler Band von nur 200 Seiten – dennoch öffnet es Türen zu mehr Geschichten, als einzelne Forschende aufdecken können. Dr. Sebastian Schirrmeister vom Centre for the Study of Manuscript Cultures an der Universität Hamburg will es mit Hilfe neuer digitaler Techniken für die Wissenschaft erschließen.
Im März 1939 flüchtete der deutsche Schriftsteller und Kritiker Max Brod, Herausgeber der Werke von Franz Kafka und dessen engster Freund, vor den Nationalsozialisten nach Palästina. In Jerusalem führte ihn einer seiner ersten Wege in das Haus von Miryam und Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl. Die Schauspielerin und der Publizist waren für ihn wie für viele Flüchtlinge ein wichtiger Anlaufpunkt bei dem Versuch, fernab der Heimat ein neues Leben zu beginnen.
Max Brod trug sich am 23. März 1939 in das Gästebuch des Ehepaars Ben-Gavriêl ein; ebenso wie Jahre vor ihm Arnold Zweig oder Oskar Kokoschka. Insgesamt hinterließen rund 600 Menschen Gedanken, Gedichte, Zeichnungen und Dankesbekundungen darin, auf Arabisch, Hebräisch, Deutsch, Chinesisch oder sogar in Keilschrift. So wurde das Gästebuch zu einem vielsprachigen Spiegelbild der ereignisreichen Zeit, in der es entstand.
Später landete es als Teil des Nachlasses von Moshe Ya’akov Ben-Gavriêl in der Nationalbibliothek von Israel (NLI) und wurde vom Centre for the Study of Manuscript Cultures (CSMC) der Universität Hamburg und der NLI gemeinsam digitalisiert - ebenso wie 23 weitere Nachlässe deutsch-jüdischer Intellektueller.
„Dieses Projekt hat grundlegende Fragen dazu aufgeworfen, wie wir mit digitalisiertem Material umgehen“, erklärt der Literaturwissenschaftler Dr. Sebastian Schirrmeister, der an dem Projekt beteiligt und schon während früherer Recherchen auf das Gästebuch gestoßen war. „Wir sprechen von einer riesigen Menge extrem heterogenen Materials, über das niemand einen Überblick hat. Deshalb habe ich mich gefragt, welche Form der Präsentation es Nutzerinnen und Nutzern mit unterschiedlichen Interessen ermöglicht, durch das Material zu 'flanieren' und interessante Entdeckungen zu machen?“
Aus dieser Fragestellung heraus entstand nun das Forschungsprojekt „Visualising Digitised German-Jewish Archives“. Anhand einer kleinen Auswahl der digitalisierten Dokumente sollen Möglichkeiten der digitalen Verarbeitung erprobt und weiterentwickelt werden - beginnend mit dem Gästebuch der Ben-Gavriêls. Am 23. Januar stellt die Forschungsgruppe vom CSMC, an der auch das Hub for Computing and Data Science der Universität Hamburg beteiligt ist, ihre Arbeit in einer öffentlichen Veranstaltung vor. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung ist über die Website des CSMC möglich.
Das Centre for the Study of Manuscript Cultures ist Heimat des Exzellenzclusters Understanding Written Artefacts an der Universität Hamburg. Dort gibt es eine längere Fassung dieses Artikels (englisch).