Präsentation nach Ersteinsatz im LouvreRöntgenblicke in antike Tonumschläge
2. Mai 2024, von Dr. Jakob Hinze
Foto: UHH/Karsten Helmholz
Im Beisein von Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank und Universitätspräsident Prof. Dr. Hauke Heekeren präsentierten Forschende der Universität Hamburg und des DESY am 29. April 2024 den weltweit einmaligen Computertomographen ENCI, der versiegelte Keilschrifttafeln lesbar macht.
Sogar ein schnöder Alltagsgegenstand wie der Briefumschlag hat eine fesselnde Geschichte. Der Legende nach verdankt er seine Erfindung König Ur-Zababa, der vor ca. 4400 Jahren mit wachsendem Argwohn das Glück seines Vertrauten Sargon beäugte. Sargon galt als Günstling der Götter und Ur-Zababa fürchtete, er könnte es auf den Thron abgesehen haben. Deswegen schickte Ur-Zababa Sargon mit einer wichtigen Nachricht zum König von Umma, die er ihm persönlich überbringen sollte. Diese war in Keilschrift auf eine Tontafel geschrieben. Ein Tonumschlag schützte die Tafel vor dem Blick ihres Kuriers. Ohne es zu wissen, überbrachte Sargon dem König sein eigenes Todesurteil.
Heute lagern mehr als eine Millionen Keilschrifttafeln in den Museen und Archiven der Welt. Dank ihrer enormen Haltbarkeit können sie uns wichtige Erkenntnisse über das Leben in der Antike liefern. Doch zahlreiche dieser Schriftartefakte haben ihr Geheimnis über die Jahrtausende bewahrt, weil sie noch immer in Tonumschlägen stecken. Sie zu öffnen, verbietet sich sowohl aus ethischen als auch aus praktischen Gründen: Zum einen sind die Umschläge selbst wertvolle historische Zeugnisse; zum anderen sind die Objekte so fragil, dass mit den Umschlägen auch die Tafeln im Inneren zerstört werden könnten.
400 Kilogramm schweres Leichtgewicht
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“ an der Universität Hamburg und des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) haben deswegen in mehrjähriger Zusammenarbeit einen weltweit einmaligen Computertomographen entwickelt, der es erstmals ermöglicht, nicht-invasiv in die Tonumschläge hineinzublicken und die Tafeln darin zu lesen. ENCI – der Name steht für „Extracting Non-destructively Cuneiform Inscriptions“ und bezeichnet gleichzeitig einen sumerischen Gott – ist mit nur etwas über 400 Kilogramm ein Leichtgewicht im Vergleich mit ähnlich leistungsfähigen Tomographen, die in der Regel mehrere Tonnen wiegen. Die Forschenden können ENCI deswegen mobil einsetzen und Keilschrifttafeln vor Ort in den Museen und Archiven untersuchen. Das ist notwendig, weil die wertvollen Objekte in aller Regel nicht transportiert werden dürfen.
Seinen ersten Arbeitseinsatz hatte ENCI im Februar dieses Jahres in einem der berühmtesten Museen der Welt: Im Pariser Louvre untersuchten die Hamburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insgesamt zwölf versiegelte Vertragsdokumente. Von jeder einzelnen Tafel wurde dabei eine Aufnahme mit 18 Milliarden Volumenpixeln erzeugt, das entspricht rund dem Hundertfachen eines Scans, wie sie in medizinischen Untersuchungen üblich sind. Dank der komplexen Visualisierung der von ENCI gelieferten Daten durch die beteiligten Computerwissenschaftler können aus diesen Datenmengen hochauflösende 3D-Rekonstruktionen der untersuchten Tafeln erzeugt werden, die für originalgetreue 3D-Drucke genutzt werden können. Altertumsforschende können daher nicht nur erstmals die bisher unbekannten Texte lesen, sondern sie erhalten auch neue Erkenntnisse über die Tafeln selbst, zum Beispiel Unterschiede in der Zusammensetzung und den Verarbeitungstechniken des Tons in verschiedenen Teilen des mesopotamischen Reiches.
Beispielcharakter für interdisziplinäre Forschung
Zurück in Hamburg schilderten die Projektleiterinnen und -leiter – die Assyriologin Cécile Michel, der Röntgenphysiker Christian Schroer und der Computerwissenschaftler Stephan Olbrich – ENCIS Entwicklung von der ersten Skizze bis zum einsatzfähigen Tomographen. Zu den geladenen Gästen gehörten Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank und Universitätspräsident Prof. Dr. Hauke Heekeren. Beide betonten in ihren Ansprachen den Beispielcharakter des Projektes für die interdisziplinäre Forschung am Exzellenzcluster UWA, das die Materialität von Schriftartefakten in den Mittelpunkt seiner Forschung rückt und so geistes-, natur- und computerwissenschaftliche Expertisen zusammenzuführt. Vor diesem Hintergrund hob UWA-Sprecher Prof. Dr. Konrad Hirschler die besondere Bedeutung der Kooperation mit dem DESY für den Exzellenzcluster hervor. Parallel zum ENCI-Projekt werden derzeit mehrere gemeinsame Pilotstudien durchgeführt. Weitere sind geplant.
Der nächste Einsatzort von ENCI steht bereits fest: In Ankara in der Türkei sollen in diesem Jahr weitere Untersuchungen stattfinden. Dort gibt es eine große Anzahl versiegelter Briefe, die für die Forschung von besonderem Interesse sind. Zuvor haben Hamburgerinnen und Hamburger die Gelegenheit, den Tomographen selbst in Augenschein zu nehmen: Am 1. Juni wird er beim Science City Day zu sehen sein – von 11 bis 19 Uhr im FLASH-Seminarraum auf dem DESY-Gelände (Gebäude 28c).