Forschung für mehr Gerechtigkeit„Wir müssen unseren Blick auf Tiere grundlegend ändern“
14. November 2022, von Christina Krätzig
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Postdoctoral Fellowships an herausragenden akademischen Nachwuchs: Zum dritten Mal hat die Exzellenzuniversität Hamburg diese Förderung vergeben. Der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Dr. Colin von Negenborn will mit Hilfe der Förderung herausfinden, wie Menschen gerechtere und nachhaltigere Entscheidungen fällen können – auch gegenüber nichtmenschlichen Akteuren.
Herr von Negenborn, Sie wollen sich in Ihrem Projekt auch mit dem Verhältnis von Mensch und Tier beschäftigen. Wieso liegt Ihnen dieses Thema am Herzen?
Ich arbeite an der Schnittstelle von Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Das finde ich interessant, weil Philosophinnen und Philosophen gesellschaftspolitische Fragen stellen, die die Ökonomie nicht betrachtet. Andersherum könnten Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften die Philosophie bereichern, beispielsweise die aus Mathematik und Volkswirtschaftslehre entlehnte Spieltheorie.
Unser Verhältnis zu Tieren ist ein geeignetes Feld für diese Forschung, da spieltheoretische Ansätze in der Ethik zwar schon existieren, aber bisher rein anthropozentrisch sind. Das heißt, bisher werden nur Menschen als Mitspieler betrachtet, obwohl Tiere von menschlichem Handeln ebenfalls beeinflusst werden.
Wie funktioniert der spieltheoretische Ansatz?
Die Spieltheorie ist eine mathematische Methode, mit deren Hilfe sich das Entscheidungsverhalten in Konfliktsituationen betrachten lässt. Sie ermöglicht es, die Auswirkungen verschiedener Interaktionen auf alle, die mitspielen, einzuschätzen. Dabei bezieht man die voraussichtlichen Reaktionen aller Mitspielenden ein. Unser Ziel beim Verwenden dieser Methode ist es, wünschenswerte Handlungen zu identifizieren: also ethisches, gerechtes Verhalten in Konfliktsituationen.
Aber Tiere planen ihre Handlungen doch nicht? Oder vermuten Sie, dass auch Tiere über Ethik nachdenken?
Vermutlich nicht. Trotzdem sind sie betroffen von unserem Verhalten und passen selbst ihr Verhalten an. Sie geben beispielsweise Lebensräume auf oder erobern neue – denken Sie nur an die wieder einwandernden Wölfe in Deutschland. Sie erobern neue Lebensräume, treffen auf neue Beutetiere und ändern ihre Jagdtechniken. Damit sind sie aus der Sicht eines Spieltheoretikers Mitspieler.
Dass sie ihr Verhalten nicht streng rational abwägen und sich nicht bewusst für die strategisch sinnvollste Handlungsoption entscheiden, ist aus spieltheoretischer Sicht unerheblich. Schließlich sind menschliche Entscheidungen auch nicht immer so rational, wie wir glauben möchten.
Heißt das, dass Sie sich mehr für die Methode interessieren als für den Tierschutz?
Tatsächlich interessiert mich die Methode sehr stark, aber ganz sicher nicht als Selbstzweck. Ich möchte dazu beitragen, dass wir Menschen lernen, die Grenzen des uns Erlaubten, also des ethisch Vertretbaren, besser zu erkennen und zu diskutieren. Das betrifft unseren Umgang mit Tieren, aber auch andere Problemstellungen wie beispielsweise unseren Umgang mit zukünftigen Generationen. In meinem Forschungsprojekt beschäftige ich mich auch mit Fragen der Generationengerechtigkeit. Was die Tiere betrifft, denke ich, dass wir unsere Art, mit ihnen zu interagieren, grundlegend überdenken müssen. Wir müssen lernen, sie als Mitspieler zu sehen und nicht nur als Objekte auf unserem Spielfeld. Wenn das gelingt, wird das langfristig auch Einfluss auf die Gesetzgebung haben - und das halte ich für wünschenswert.
Als Postdoctoral Fellow erhalten Sie ein hohes Sachmittelbudget: 20.000 Euro pro Jahr über einen Zeitraum von drei Jahren. Wofür wollen Sie das Geld ausgeben?
Zum einen möchte ich sie für Veröffentlichungen verwenden. Ich bin ein großer Fan von Open-Access-Publikationen, die für die wissenschaftliche Community frei zugänglich und kostenlos sind. Doch für die Autorinnen und Autoren können rasch Kosten in Höhe von 2000 Euro pro Publikation anfallen. Hier ist die Förderung eine große Hilfe.
Darüber hinaus möchte ich eine wissenschaftliche Hilfskraft einstellen, Tagungen und Workshops besuchen und im zweiten oder dritten Jahr meiner Förderung auch selbst zu solchen Veranstaltungen einladen.
Als Postdoctoral Fellow an der Universität Hamburg leitet Dr. Colin von Negenborn das interdisziplinäre Forschungsvorhaben "Markets and Moral(s)" im Potenzialbereich "Grounds, Causes, Reasons". Das Vorhaben verbindet praktische Philosophie und theoretische Mikroökonomie.
Postdoctoral Fellowships
Die Exzellenzuniversität fördert besonders qualifizierte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus dem In- und Ausland mit ihren jährlich vergebenen Postdoctoral Fellowships. In diesem Programm übernehmen die Geförderten die eigenverantwortliche Leitung eines Forschungsprojektes. Voraussetzung für eine Förderung ist die Anbindung des Projekts an einen der Potenzialbereiche der Universität Hamburg.