Der Künstler Axel Malik an der Universität Hamburg„Jenseits des Inhalts öffnet sich ein anderer Raum für Bedeutung“
26. September 2022, von Christina Krätzig
Ein wichtiges Element in Axels Maliks Kunstprojekt sind Tagebücher. Seit 1989 schreibt er ununterbrochen, Tag für Tag. Seine Schreibprozesse und Zeichen sind unlesbar, aber nicht unleserlich, erklärt der Künstler, der „Artist in Residence“ am Exzellenzcluster Understanding Written Artefacts ist.
Herr Malik, andere Menschen halten in ihren Tagebüchern Ereignisse oder Emotionen fest, um sie später einmal nachlesen zu können. Das geht bei Ihren Tagebüchern nicht, oder?
Mich interessiert gerade das, was geschieht, wenn man die Schrift von ihrem Inhalt löst, aber gleichzeitig Intensität und Spannung in der skripturalen Setzung steigert: So, als gelte es das Leben in seinem Jetztmoment, in seiner atmosphärischen Dichte und Erfülltheit zu notieren. Man hat aber keine Sätze im Auge, die das be- oder umschreiben, sondern die Vibration des Augenblicks. Ihr energetisches Momentum soll sich direkt in der Schreib-Bewegung entladen. Jenseits des Inhalts öffnet sich dann ein anderer Raum für die Bedeutung von Schrift und Schreiben.
Wie ist es zu Ihrem Tagebuchprojekt, das Sie als „skripturale Methode“ bezeichnen, gekommen?
Ich habe schon immer gerne handschriftlich geschrieben. In einem Schreibexperiment 1989 wollte ich wissen, was geschehen würde, wenn ich meine Aufmerksamkeit und Wahrnehmung nicht wie sonst üblich auf den Inhalt richten würde, sondern allein auf die Schreib-Bewegungen, also auf den bloßen Prozess des Schreibens. Was ich erlebte, traf mich wie ein Schock. Schreib-Bewegungen, die nicht länger an ihr typografisches Gerüst gebunden sind, entwickeln eine Art Eigenleben. Sie erzeugen individuelle, zeichenartige Spuren, die sehr komplex und differenziert sind. Sie wiederholen sich nie! Jedes dieser Bewegungsereignisse ist in seiner Form und Gestalt unverwechselbar. Zeichen für Zeichen, Zeile für Zeile und Seite für Seite formiert sich so ein struktureller Text. Der scheinbar endlose Zeichenvorrat und das schier endlose Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen fasziniert und bewegt mich.
Als „Artist in Residence“ arbeiten Sie am Exzellenzcluster Understanding Written Artefacts mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen. Prallen da nicht Welten aufeinander?
Ja. Wissenschaftliche und künstlerische Methoden, aber auch ihre Zielsetzungen und das, worauf sie ihr Augenmerk lenken, sind unterschiedlich und oft sogar gegensätzlich. Gleichzeitig kann in diesen Gegensätzen eine produktive und schöpferische Spannung liegen, die neue Sichtweisen und Horizonte ermöglicht. Daran haben beide Seiten ein starkes Interesse.
Welche Rolle spielt Ästhetik in Ihrer Arbeit?
In erster Linie geht es um Zeichen, die in einem Zug, also ohne Absetzen und Korrektur geschrieben werden. Die Zeichen, die sich zwar voneinander unterscheiden, aber auch aufeinander bezogen sind, bilden einen stimmigen Zusammenhang. Sie artikulieren eine differenzierte, skripturale Sprache. Die Ästhetik entsteht absichtslos, von allein. Sie ist mir selbst ein Rätsel. Aber möglicherweise ist genau das das Geheimnis von Schönheit: Sie entzieht sich einer eindeutigen Interpretation oder einem zielgerichteten Zweck.
Axel Malik: Projekte
1989 begann Axel Malik mit seinem bis heute nicht unterbrochenen Projekt des täglichen Schreibens. Zu seiner Arbeit gehören großformatige Schreibprozesse, Installationen in Bibliotheken und Archiven, akustische Archive mit Schreibgeräuschen, Schreibvideos und Schreibperformances. Im Rahmen des Tagebuchprojekts sind mittlerweile über 140 Bände mit mehr als 30.000 Seiten entstanden.
Gemeinsam mit Forschenden des Exzellenzclusters Understanding Written Artefacts arbeitet der Künstler derzeit an dem Workshop „Choreographien im Unlesbaren", der in das Programm der Konferenz „Material Goods" vom 2. bis 4. Februar 2023 auf Kampnagel integriert ist. Auch ein zweitägiges Event in den Deichtorhallen ist in Vorbereitung. Es wird am 11. und 12. Mai 2023 stattfinden und trägt den Titel „Beyond Visualising Language“