Advanced Fellows der Universität Hamburg„Es geht auch darum, das intellektuelle Leben in Hamburg zu bereichern“
6. Januar 2022, von Christina Krätzig
Foto: Hias/C. Höhne, KUMR.de
Eine Auszeit in Hamburg, um sich vollständig einem selbstgewählten Projekt widmen zu können: Das ermöglicht ein Förderprogramm Forschenden wie Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt. Der Dirigent Lutz Rademacher und der Politikwissenschaftler Oliver Schmidtke erzählen, wie sie dies erleben.
Herr Rademacher, Sie sind in diesem Jahr der einzige Advanced Fellow, der Künstler ist. Wie geht es Ihnen zwischen lauter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern?
Rademacher: Ich empfinde den Austausch in der Gruppe – mit Fellows, die auf ganz unterschiedliche Themen spezialisiert sind und sich in verschiedenen Karrierephasen befinden –, als ungeheuer bereichernd. Ich möchte meine Zeit in Hamburg ja nutzen, um herauszufinden, warum es die sogenannte Neue Musik des 21. Jahrhunderts beim Publikum so schwer hat – anders als beispielsweise die zeitgenössische Malerei. Meinen 16 Mitfellows biete ich wöchentlich das gemeinsame Hören eines Musikstücks an. Die anschließende Diskussion eröffnet mir ebenso neue Perspektiven wie die Vorträge, die andere über ihre Fachgebiete halten.
Herr Schmidtke, als Politikwissenschaftler forschen Sie zur Entstehung von Rechtsextremismus in verschiedenen europäischen Ländern. Wir profitieren Sie von Ihrem Fellowship?
Schmidtke: Ich lebe seit vielen Jahren in Kanada, leite an der University of Victoria das Centre for Global Studies. In Hamburg bin ich weniger belastet durch die alltägliche administrative Arbeit. Die Zeit hier ermöglicht mir auch einen intensiveren Kontakt zu meinen Forschungsthemen sowie zu Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa, insbesondere natürlich hier in Hamburg. Alle Fellows werden von hiesigen Tandem-Partnern oder -Partnerinnen betreut, um Anschluss an die Wissenschaftsgemeinde zu finden. Meine Tandem-Partner sind die Politikwissenschaftlerin Antje Wiener von der Universität Hamburg und ein Erziehungswissenschaftler von der Helmut-Schmidt-Universität. Wir haben bereits mehrfach zusammengearbeitet und bringen nun gemeinsame Publikationsprojekte voran. Deren Abstimmung ist deutlich einfacher, wenn man an einem Ort ist.
Haben Sie ebenfalls die Absicht, ein Buch zu schreiben, Herr Rademacher?
Rademacher: Nein, ich möchte ein Stück zeitgenössisches Musiktheater erarbeiten und dieses am 24. Juni 2022 in Hamburg uraufführen. Der enge Zeitrahmen und das kleine, noch nicht ganz feststehende Budget sind ziemlich ambitioniert, aber daran bin ich als jemand, der den größten Teil seines Lebens als freier Künstler gearbeitet hat, gewöhnt.
Worum wird es in Ihrem Stück gehen?
Rademacher: Es soll Theater im Theater sein. Die beteiligten Disziplinen wie Komposition, Gesang oder Dramaturgie kommen zu Wort und machen den Entstehungsprozess eines solchen Stücks im Spannungsfeld des Publikumsgeschmacks erfahrbar.
Spielt der öffentliche Diskurs auch bei Ihrer Arbeit eine Rolle, Herr Schmidtke?
Schmidtke: Ich glaube, der ist heute für nahezu alle Forschenden wichtig. Auch ich bemühe mich, meine Forschungsergebnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen und sie transparent zu machen. Beispielsweise durch einen zweitägigen Workshop zum Thema der Erinnerungspolitik in Europa und Kanada, den ich im Oktober 2021 angeboten habe und der für Fachfremde offen war. Der Austausch mit der Gesellschaft ist ja auch eines der Grundprinzipien des „Hamburg Institute for Advanced Study“, kurz HIAS, das uns Fellows betreut. Es geht also explizit darum, das intellektuelle Leben in Hamburg zu bereichern.
Wie sieht Ihr Alltag eigentlich aus, wie muss man sich das Leben als Fellow vorstellen?
Schmidtke: Einige, aber nicht alle Fellows wohnen wie ich im Gästehaus der Universität. Allen gemeinsam ist, dass wir uns zum Arbeiten in den Räumen des HIAS in der Rothenbaumchaussee 45 treffen. Hier findet auch unser gemeinsames Rahmenprogramm statt. Dienstags essen wir beispielsweise in großer Runde zu Mittag und Herr Rademacher bietet das Musikhören an. Mittwochs erkunden wir häufig zusammen das kulturelle Leben der Stadt. Und jeden Donnerstag stellt einer der Fellows den anderen seine Arbeit vor. Mit Impfung und Tests ist dies glücklicherweise auch derzeit möglich.
Rademacher: Man darf es sich aber nicht so vorstellen, als würden wir alle die ganze Zeit zusammen am Rothenbaum hocken. Dank der zentralen Lage des HIAS genieße ich es beispielsweise, mich aufs Rad zu schwingen und in wenigen Minuten zur Hochschule für Musik und Theater zu radeln, die sich für mich als wichtiger Anknüpfungspunkt entpuppt hat. Es ist wunderbar, ein halbes Jahr lang in einer festen interdisziplinären Gruppe gemeinsam zu arbeiten – und es ist ebenso wichtig, sich darüber hinaus mit Expertinnen und Experten auf dem eigenen Gebiet auszutauschen.
Förderprogramm „Advanced Fellowships“
Pro Jahr können bis zu 20 Fellows zwischen drei und zehn Monate lang in Hamburg leben und arbeiten: Forschende ebenso wie Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, nicht aber aus der Metropolregion Hamburg. Betreut werden die Fellows vom Wissenschaftskolleg „Hamburg Institute for Advanced Study“ (HIAS), das von neun Hamburger Wissenschaftsinstitutionen getragen wird. Finanziert wird die Fördermaßnahme anteilig aus Mitteln der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder. Die „Advanced Fellowships“ wurden 2021 zum zweiten Mal ausgeschrieben.