Nucleus-Professur für Information Systems and Digital Innovation„Alle großen Herausforderungen haben heute mit Digitalisierung zu tun“
18. Juni 2021, von Christina Krätzig
Foto: privat
Prof. Dr. Jan Christof Recker ist neuer Nucleus-Professor an der Universität Hamburg. Mit der Ausschreibung dieser Professuren treibt die Universität die Entwicklung zentraler Forschungsthemen voran. Die Ausschreibung der Nucleus-Professuren (von Nucleus, lateinisch „Kern“) erfolgt im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder.
Herr Recker, Sie sind Experte für Digitalisierung, Innovation und Gründung. Eines Ihrer zentralen Forschungsgebiete ist Digitalisierung und nachhaltiges Wirtschaften. Mit welchen Problemstellungen beschäftigen Sie sich?
Heute haben alle großen Herausforderungen der Gesellschaft mit Digitalisierung zu tun. Ob es die Covid-19-Pandemie oder die Klimakrise ist, ohne IT lassen sich diese Themen nicht lösen. Zum Beispiel versuchen zur Zeit viele Firmen nachhaltiger zu operieren durch den Einsatz von IT, was aber gar nicht so trivial ist: Einerseits werden durch die Digitalisierung Ressourcen geschont, etwa wenn Dienstreisen durch Onlinemeetings ersetzt werden . Anderseits steigt der Stromverbrauch durch die IT, etwa in Bezug auf Rechenprozesse – diese Dimensionen sind kaum jemandem bewusst. Schätzungen gehen davon aus, dass bis 2030 ein Fünftel des weltweiten Energiebedarfs durch die Nutzung von IT entsteht. Besonders drastisch ist das im Bereich Künstlicher Intelligenz. So ist beispielsweise die Ökobilanz der Entwicklung eines Spracherkennungs-Assistenten wie Siri oder Alexa viel schlechter als die eines Autos über seine gesamte Lebensdauer hinweg. Das müssen wir im Auge behalten.
In welchen Bereichen führt die Digitalisierung zu mehr Nachhaltigkeit?
Häufig werden smarte, nachhaltige Lösungen erst durch Digitalisierung überhaupt möglich. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft, also einer zirkulären Wertschöpfung, die weg geht von dem Modell „neue Sachen entwickeln, nutzen und wegwerfen“. Um Geräte länger zu nutzen und zu reparieren oder am Ende zu recyceln statt neu zu kaufen, braucht es digitale Lösungen, um den Lebenszyklus von Produkten nachverfolgen zu können, und auch um Handlungsanreize setzen zu können, und zwar für Firmen wie auch für Endkunden.
In diesem Bereich gibt es sehr viel Bewegung, gerade junge Gründerinnen und Gründer bemühen sich um solche Ansätze. So habe ich beispielsweise eine Gruppe unterstützt, die ein digital unterstütztes Mehrweg-Verpackungssystem für Liefer- und Mitnahmespeisen entwickelt hat – mit großem Erfolg.
Sie sind ja sowohl Betriebswirt als auch Informatiker. Was ist Ihre Rolle?
Bei Digitalisierung denken die meisten an ein reines IT-Thema. Doch das ist viel zu kurz gegriffen, wenn wir hier nur Aspekte der Informationstechnologie betrachten. Um fundierte, nachhaltige Lösungen zu finden, müssen Forschende aus vielen Bereichen interdisziplinär zusammenarbeiten. Betriebswirte müssen sich schon seit Langem mit IT beschäftigen – kaum eine Firma kommt ohne aus. Und da ich deshalb seit eh und je interdisziplinär arbeite, sehe ich es als meinen Job, die verschiedenen Problemfelder zu erkennen und die entsprechenden Forschenden zusammenzubringen.
Können Sie ein Beispiel für eine solche Zusammenarbeit nennen?
Denken Sie nur an die aktuelle Diskussion um die Digitalisierung von Schulen. Natürlich ist es eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Homeschooling, dass Schülerinnen und Schüler ausreichend mit Rechnern versorgt sind. Aber dies ist nur ein Schritt und wahrscheinlich nicht mal der wichtigste. Es reicht nicht, Endgeräte an Schulen oder Schülerinnen und Schüler zu liefern. Damit Homeschooling funktioniert, muss man viele andere Themen einbeziehen. Man muss sich fragen, wie Wissen digital vermittelt werden kann oder ob die klassische Zeitaufteilung des Unterrichts in Frage gestellt werden muss. Wie sehen Lernprozesse aus, die nicht in der Schule, sondern zu Hause ablaufen? Wann, wie und wo erleben Kinder optimale Lernsituationen - und wie kann man die möglichen neuartigen Zeiteinteilungen eines digitalen Unterrichts familienfreundlich und pädagogisch effektiv umsetzen? Solche Überlegungen können zu sehr grundsätzlichen Fragen führen, beispielsweise nach Bewertungssystemen von Leistungen. Und solche Fragen sind nicht an Informatikerinnen und Informatiker gerichtet. Stattdessen braucht man Soziologinnen und Lernforscher zusammen mit Informatikern und vielen anderen, um Antworten zu finden.
Sie sind nicht nur Professor für Information Systems and Digital Innovation an der Universität Hamburg, Ihre Professur ist auch eine Nucleus-Professur. Wie wollen Sie dies mit Leben füllen?
Solche Professuren sollen eine Initialwirkung auf die Entwicklung wichtiger Forschungsthemen haben. Bei mir geht es dabei besonders um die Verknüpfung des Themas „Digitalisierung“ mit anderen, bestehenden oder neuen Problembereichen, die an der Universität erforscht werden. Des Weiteren setze ich mich auch für den bilateralen Wissenstransfer ein: aus der Universität in die Gesellschaft, aber auch von der Gesellschaft zurück in die Uni. Welche Themen spielen in der Region Hamburg eine Rolle, und wie kann Digitalisierung bei diesen Themen helfen? Auch möchte ich erreichen, dass junge Gründerinnen und Gründer mehr Unterstützung von der Universität bekommen und engagiere mich deswegen nicht nur im Transferrat, sondern auch im Aufbau und der Betreuung des Management Transfer Labs. Die Fakultät für Betriebswirtschaft baut es auf, damit innovations- und gründungsfreudige Interessierte an der der Universität eine Anlaufstelle haben, um das nötige Know-How zu erlernen und anzuwenden.