Seminar zur Schreibtischforschung im Studium GeneraleVon Stiften und Stehlampen
26. Februar 2021, von Christina Krätzig
Die Gastwissenschaftler Prof. Dr. Stephan Porombka und Julian Farny von der Berliner Universität der Künste (UdK) bereichern in diesem Semester das Angebot der Universität Hamburg mit einem außergewöhnlichen Seminar: Gemeinsam mit Studierenden erforschen sie ihre Schreibtische.
Herr Porombka, Sie sind Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der UdK in Berlin. In Hamburg bieten Sie nun, zusammen mit Ihrem Kollegen Julian Farny, ein Seminar zur Schreibtischforschung an. Was genau ist das?
Work-Place-Studies sind ein etablierter Forschungsbereich, der in der Soziologie angesiedelt ist. Man schaut sich Arbeitsplätze an und fragt, wie Menschen arbeiten. Wie richten sie sich ein, was brauchen sie, um richtig gut arbeiten zu können? Das sind wichtige Forschungsfragen.
In unserem Seminar betrachten wir die Tische, an denen wir arbeiten, als Landschaften, die aus Büchern, Heften, Blättern, Zettelchen, Stiften, Kabeln und Geräten entstehen und sich ständig verändern. Die Studierenden erarbeiten umfangreiche Journale aus Texten und Bildern, die ihr eigenes Arbeiten reflektieren. Darüber hinaus dokumentieren sie ganz allgemein, wie Hamburger Studierende aktuell eingerichtet sind und arbeiten. Das Material wäre für Forschende aus vielen Fachrichtungen interessant: für Psychologinnen ebenso wie für Lernforscher, Soziologinnen, Anthropologen oder Historikerinnen. In 30 Jahren werden Betrachter über Aspekte der Bilder staunen, die wir heute gar nicht bemerken. Sie funktionieren dann auch wie eine Zeitkapsel.
Ist das auch Kunst?
Unbedingt! Allein das genaue Beobachten ist eine Kunst. Die Studierenden lernen, Alltägliches zu etwas Besonderem zu machen, und das ist genau das, was Kunst tut. Sie verwandelt Dinge, die nichts Besonders sind, in etwas Besonderes und wertet den Alltag durch einen Ästhetisierungsprozess auf. Wir sagen den Studierenden immer, dass sie nichts falsch machen können. Wenn sie fragen, wie man in so einen Kunstprozess hineinkommt, antworte ich: „Du bist schon da. Wann immer du beobachtest und darüber nachdenkst, bist du mitten drin.“ Das ist wahnsinnig schön.
Was macht Ihnen so viel Spaß daran?
Der Stoff ist unbeschränkt – und die Studierenden sind die Gebenden. Wäre ich Germanist geblieben, würde ich im Gegensatz dazu stets einen bestimmten Stoff vermitteln, beispielsweise die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Dieser Stoff ist begrenzt, und die Studierenden könnten nur ausführen, was ich bereits vorher darüber wusste. In unserem Seminar zur Schreibtischforschung erschaffen die Teilnehmenden jedoch etwas Eigenes. Sie zeigen uns Lehrenden jede Woche etwas sehr Privates, öffnen sich und arbeiten mit ihren Ideen weiter. Für uns ist es immer eine große Überraschung, was sie uns zeigen. Wir fühlen uns beschenkt – und das macht Spaß!
Warum nehmen die Leute teil?
Ich denke, das Wort Praxis löst ja immer einen ganz schönen Reflex aus: „Endlich darf ich mal selbst etwas machen!“ Praxis war auch in diesem Seminar ein Versprechen, auf das sich alle Teilnehmenden gefreut haben. Zudem dürfen sie die Forschung so angehen, wie sie es möchten. Wir sagen immer: „Sie sind der Forscher oder die Forscherin – entwickeln Sie das für Sie passende Forschungsdesign!“ Das ist für viele neu, und das begeistert.
Sie haben an anderen Universitäten bereits Erfahrungen mit einem Studium Generale gesammelt. Was ist das Besondere daran?
Es geht darum, Schlüsselkompetenzen zu vermitteln über enge Fachkompetenzen hinaus. Es geht heute zu viel darum, marktgerecht auszubilden, um die sogenannte Employability. Ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus ist jedoch auch wichtig – und vermittelt ebenfalls essentielle Kompetenzen. Das Studium Generale verbindet Menschen aus ganz verschiedenen Disziplinen. Sie lernen, dass ihr Blick auf die Welt nur einer von vielen möglichen ist. Und kommen häufig zu spannenden Kooperationen.
Werden Sie sich am weiteren Ausbau des Studiums Generale in Hamburg beteiligen?
Ich fände das jedenfalls reizvoll. Im nächsten Semester halte ich eine Online-Vorlesung mit dem Titel „Text – Stadt – Text“. Es geht darum, wie man eine Stadt liest, wie man über Städte schreibt oder sich schreibend durch Städte bewegt. In einem begleitenden Seminar für Hamburger Studierende leitet Julian Farny dann Schreibübungen an, damit die Teilnehmenden lernen, sich mit ihrer Stadt und ihrer Umgebung zu beschäftigen. Das ist eine Art Fortführung dieses Seminars.
Studium Generale
Das Studium Generale ist an der Universität Hamburg ein gemeinsames Angebot der Fakultät für Geisteswissenschaften, der Fakultät für Erziehungswissenschaft und der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Es eröffnet den Studierenden im Rahmen eines Wahlbereichs die Möglichkeit, ihr fachwissenschaftliches Studium durch neue Perspektiven zu bereichern und Lehrveranstaltungen aus den anderen beteiligten Fakultäten zu belegen. Um das Studium Generale weiter auszubauen, lädt die Universität Hamburg ab dem Wintersemester 2020/2021 für jeweils ein Semester herausragende Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ein. Die Reihe beginnt mit dem Seminar von Stephan Porombka und Julian Farny. Finanziert wird diese Maßnahme aus Mitteln der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder.