Wissenschaft trifft Gesellschaft: „Hamburger Horizonte 2020“ im LivestreamGemeinsam über europäische Identität diskutieren
17. November 2020, von Anna Priebe
Foto: Hamburger Horizonte
Was heißt „europäisch sein“? Darum geht es auf der digitalen Konferenz „Hamburger Horizonte“ am 19. und 20.11., die von der Universität mitfinanziert und mitgestaltet wird. Prof. Dr. Kerstin Poehls vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft wird auf dem Podium über europäische Identität sprechen.
Die Corona-Pandemie trifft ganz Europa – aber nicht alle Länder gleich. Ist schon absehbar, wie sich die Krise auf Europa auswirkt?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch sehr schwer zu sagen. Grundsätzlich wäre aus meiner Sicht als Proeuropäerin, die sich auch wissenschaftlich mit Europa befasst, die Hoffnung, dass wir die momentanen nationalen Rahmungen wieder überwinden werden. Derzeit sind ja alle Lösungsansätze sehr stark von einem Rückgriff auf den Nationalstaat geprägt. Es gibt zwar europäische Gelder, die zur Verfügung gestellt werden, aber insgesamt ist es ein riesiger Flickenteppich an Maßnahmen.
Es heißt zwar immer wieder, man solle von den erfolgreichen Ländern lernen, aber gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass alle doch eher eigene Rezepturen erproben und es einen gemeinsamen Angang – zumindest bis jetzt – noch nicht gibt. Idealerweise kann die jetzige Situation aber auch den Blick dafür schärfen, wie verschiedene politische Systeme funktionieren und wo sie eben auch nicht funktionieren.
Bei den „Hamburger Horizonten“ wird es darum gehen, im Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu diskutieren, was es bedeutet „europäisch zu sein“. Wie kann ein solcher Austausch Europa konkret verändern oder beeinflussen?
Die Frage der europäischen Identität ist eine hochpolitische. Ich selber bin eine große Skeptikerin des Identitätsbegriffs, da er so aufgeladen ist. Ich benutze ihn in meiner Forschung nicht, sondern beobachte höchstens, wie er in einer politischen Öffentlichkeit benutzt wird. Ich finde aber auch, dass die Wissenschaft nicht das Monopol haben sollte, zu entscheiden, wie solche Fragen diskutiert werden.
Es wäre daher toll, wenn das Format, das sich ja explizit an die Gesellschaft richtet, auch digital ein breites Publikum anzieht und sich viele Menschen einklinken und ihre Fragen und Ansichten formulieren. Meine Hoffnung ist, dass wir dann gemeinsam den Begriff der europäischen Identität ein bisschen aufknacken und diskutieren können, was abseits von großen Programmen europäische Alltagserfahrungen sein könnten, wenn wir Europa auch als einen Erfahrungsraum wahrnehmen. Ein erfolgreiches Beispiel ist das ERASMUS-Programm, bei dem Millionen junger Menschen für eine Zeit in einem anderen europäischen Land leben. Am Ende müssen wir Europa erfahren, statt nur darüber zu sprechen.
Sie haben unter anderem zu Europabildern von Brüsseler EU-Eliten sowie zur Darstellung von Migration in Europa geforscht und untersuchen auch aktuell Fragen rund um Europa. Wie gelingt das, wenn man nicht oder nur eingeschränkt reisen kann?
Natürlich kann man spezielle Fragen formulieren und erforschen, die digital gut abbildbar sind. Allerdings interessieren wir uns als Kulturwissenschaftler und Ethnologen immer auch dafür, wie Menschen ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrnehmen. Vieles, was unseren Alltag ausmacht, können wir auch schlecht in Worte fassen, und deshalb ist die Teilnehmende Beobachtung für viele meiner Kolleginnen und Kollegen und mich wichtig. Diese Methode ausschließlich im Digitalen durchzuführen, halte ich für schwierig.
So befasst sich meine laufende Forschung mit Zucker als einer globalen Handelsware, die in Europa lange stark reguliert war. Um die Seite des Handels zu untersuchen, habe ich Akten und EU-Regularien studiert, aber vor der Pandemie auch Interviews in der City of London geführt, wo Broker über die Warenterminbörse in Chicago zum Beispiel die Süßwarenindustrie mit Zucker als Rohstoff versorgen. Dort wird Zucker ökonomisch wirksam, bevor er überhaupt produziert wurde. Ich habe vor Ort an den Bildschirmen gesessen und mit den Händlern gesprochen. Für die Perspektive des Konsums habe ich mir unter anderem Onlineforen angeschaut, wo darüber diskutiert wird, ob man nicht auf Zucker komplett verzichten sollte. Das hat mit urbanen Lebensstilen in europäischen Wohlstandsgesellschaften zu tun. Dieser Aspekt lässt sich digital sehr gut nachvollziehen.
Hamburger Horizonte und die Exzellenzstrategie
Ziel der Konferenzreihe „Hamburger Horizonte“ ist es, den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft in Hamburg zu fördern. Seit 2017 findet jährlich eine Konferenz zu wechselnden Themen von besonderer gesellschaftlicher Relevanz statt. Die Konferenz wird von der Körber-Stiftung und dem Hamburg Institute for Advanced Study gemeinsam organisiert. Initiiert wurde das Format von der Universität Hamburg gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke sowie der Körber-Stiftung.
Die Konferenz gehört zu den internationalen Strategiekonferenzen der Universität Hamburg, die ein wichtiger Baustein im Konzept „A Flagship University: Innovating and Cooperating for a Sustainable Future“ sind, mit dem die Universität in der Exzellenzstrategie, dem Wettbewerb von Bund und Ländern zur Förderung der Spitzenforschung, erfolgreich war. Die Finanzierung von „Hamburger Horizonte“ erfolgt anteilig aus Mitteln der Exzellenzstrategie. Den anderen Teil trägt die Körber-Stiftung. Auch die Fellows des Hamburg Institute for Advanced Study (HIAS), die das Programm der Hamburger Horizonte mitgestalten, werden über die Advanced Fellowships aus Mitteln der Exzellenzstrategie gefördert.
Die digitale Konferenz findet am 19. und 20.11. statt und kann im interaktiven Livestream verfolgt werden. Eine Anmeldung ist nicht notwendig. Das Programm sowie der Livestream sind auf der Webseite der Hamburger Horizonte zu finden.