Ringvorlesung zur Kunst der KartografieVon Seeungeheuern und ihrer Abwesenheit
3. November 2020, von Christina Krätzig
Im 10. Jahrhundert n. Chr. entstand die erste arabische Weltbeschreibung mit Texten und Landkarten. Die Karten wirken erstaunlich modern – auch, weil sie unbekannte Gebiete frei ließen statt sie mit erfunden Wesen und Orten zu füllen, erklärt die Islamwissenschaftlerin Dr. Nadja Danilenko vom Exzellenzcluster Understanding Written Artefacts.
Wie Perlen reihen sich die Städte an der Küste auf: beispielsweise Aden, eine Hafenstadt im heutigen Jemen, oder das weiter östlich gelegene Siraf, das im begleitenden Text als eine der reichsten Städte Persiens bezeichnet wird. In dem vor über 1000 Jahren entstandenen „Buch der Routen und Reiche“ wird jede dieser Städte durch ein Rechteck oder einen farbigen Kreis dargestellt. Diese Farben und Formen ziehen sich durch das gesamte Werk, das insgesamt 21 Karten enthält: eine Weltkarte und zwanzig Regionalkarten.
Der Autor könnte Händler oder Verwaltungsbeamter gewesen sein
„Einer der Autoren des Werkes war ein Mann, der al-Iṣṭakhrī hieß. Wir wissen kaum etwas über seine Person. Es scheint aber, als sei er weit gereist, denn er erwähnt immer wieder, dass er Orte selbst besucht hat. Er könnte ein Händler gewesen sein, oder ein Verwaltungsbeamter in der islamischen Welt, die damals von der iberischen Halbinsel bis zum heutigen Pakistan reichte“, erklärt Dr. Nadja Danilenko, die über das Buch promoviert hat.
Das Buch war nicht für Reisende gedacht, sondern als Nachschlagewerk für gebildete Leserinnen und Leser.
Es wurde vermutlich direkt nach seiner Entstehung mehrfach kopiert und gelangte – wie damals üblich – im Gepäck von reisenden Gelehrten von Ort zu Ort. Kopisten fertigten überall weitere Abschriften für private oder öffentliche Bibliotheken an, wie es sie beispielsweise an Höfen gab.
Die erstaunlich moderne Anmutung der über tausend Jahre alten Karten beruht zum einen auf der durchgehenden Verwendung von Farben und Formen: Hat der Leser oder die Leserin das Prinzip einmal verstanden, fällt die Orientierung leicht. Zum anderen ist sie ein Resultat der verschiedenen Maßstäbe. „Auch wenn die Karten in sich nicht maßstabgetreu sind, zeigen sie wie mit verschiedenen Zoomobjektiven aufgenommene Ausschnitte der damals bekannten Länder. Alle Karten beziehen sich aufeinander, stets wird deutlich, wo sich einzelne Regionen befinden. Al-Iṣṭakhrī ging es also vor allem um Überblick und Orientierung, ähnlich wie heutigen Karten“, sagt Danilenko.
Vor allem aber sind es die freien Flächen, vor deren Hintergrund die in den Karten enthaltenen Informationen zur Geltung kommen. Sie fallen besonders ins Auge, wenn man die Karten mit ihren mittelalterlichen Pendants aus der westlichen Welt vergleicht – oder mit späteren Abschriften.
„Das Buch wurde bis ins 19. Jahrhundert kopiert und dabei manchmal auch verändert und an den jeweiligen Zeitgeist angepasst“, erklärt Danilenko. Im Cluster Understanding Written Artefacts erforscht die Islamwissenschaftlerin Handschriften, die im 16. Jahrhundert in der Hauptstadt des osmanischen Reichs im Umlauf waren, im heutigen Istanbul. Im Rahmen dieser Arbeit begegnen ihr auch Kopien des Buchs der Routen und Reiche.
So beispielsweise eine farbenfrohe Kopie aus dem 16. Jahrhundert. Darin haben sich nicht nur einige Städte, sondern gleich der ganze Fluss Indus auf den afrikanischen Kontinent verirrt. Warum die geographischen Gegebenheiten auf der Karte aus dem 16. Jahrhundert weniger naturgetreu sind als beim Original, ist nicht bekannt. Möglicherweise arbeitete der Illustrator mit einer beschädigten Vorlage.
Auffällig sind die neu hinzugekommenen Figuren
Im Persischen Meer tummeln sich nun Jonas und der Wal, hier in der Gestalt eines großen Fischs. Von der afrikanischen Küste aus reicht der Erzengel Gabriel dem Propheten Bekleidung. „Hier hat der Illustrator die Karten frei interpretiert und al-Iṣṭakhrīs Hauptanliegen über Bord geworfen. Während al-Iṣṭakhrī historische und kulturelle Details im Text unterbrachte, um die Karten übersichtlich zu halten, benutzte dieser Illustrator die freien Flächen wie eine Leinwand. Darauf verteilte er Städte und Flüsse nach seinem ästhetischen Empfinden und fügte Motive hinzu, die er mit bestimmten Regionen assoziierte. Somit reicherte er al-Iṣṭakhrīs Karten mit neuen Bedeutungsebenen an, die ihm aus der visuellen Kultur seiner Zeit vertraut waren“, erklärt Nadja Danilenko.
Denn Jonas und der Wal tauchten bereits in einer Kopie aus dem 15. Jahrhundert auf. „Die farbenfrohe Kopie aus dem 16. Jahrhundert zeigt, wie Motive in der osmanischen Hauptstadt zirkulierten und zu neuen Interpretationen von älterem Material führten“, sagt Danilenko. Solche kartographischen Transformationen untersucht die Wissenschaftlerin ebenfalls am Cluster Understanding Written Artefacts.
Ringvorlesung „Maps and Colours“
Im Rahmen der Ringvorlesung „Maps and Colours“ hält Dr. Nadja Danilenko am 15. Dezember 2020 den Vortrag „Colour-Coding the Islamic World. How the Maps in the Book of Routes and Realms transformed during its Transmission“. Diese Ringvorlesung ist eine von zwölf öffentlichen Ringvorlesungen Vorlesungsreihen an der Universität Hamburg im Wintersemester 2020/21.
Die Vorlesungsreihe „Maps and Colours“ beginnt am 3. November. Nationale und internationale Referentinnen und Referenten sprechen über die materielle Beschaffenheit und die Bedeutung von Farben auf historischen Landkarten. Die Vorlesungen finden digital statt und sind offen für alle.
Die Ringvorlesung ist eine Kooperation des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“, des Centrums für Naturkunde sowie dem Mineralogischen Museum der Universität mit dem ehemaligen Völkerkundemuseum und jetzigen Museum am Rothenbaum MARKK und der Stiftung Hanseatisches Wirtschaftsarchiv.