Erster Nucleus-Professor an der Universität HamburgHistoriker baut Zentrum zur Werte- und Gesundheitsgeschichte auf
31. August 2020, von Christina Krätzig
Foto: University of Kent
Prof. Dr. Ulf Schmidt wird Anfang September erster Nucleus-Professor an der Universität Hamburg. Mit der Ausschreibung dieser Professuren möchte die Universität führende Forschungspersönlichkeiten gewinnen und die Entwicklung von Forschungsschwerpunkten wie beispielsweise der Infektionsforschung vorantreiben. Die Ausschreibung der Nucleus-Professuren (von Nucleus, lateinisch „Kern“) erfolgt im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder.
Herr Schmidt, als Professor für Neuere und Neueste Geschichte haben Sie zu sehr unterschiedlichen Themen gearbeitet: beispielsweise zur Geschichte chemischer und biologischer Kampfstoffe, zur Geschichte der Propaganda oder zu Menschenversuchen in der Medizin. Was ist der gemeinsame Nenner dieser Themenfelder?
Im Zentrum meiner Arbeit steht die Geschichte der medizinischen Ethik. Dieses Themenfeld wurde bislang von Philosophen oder Medizinern bearbeitet; es ist neu, dass sich ein Historiker damit beschäftigt. Ich betrachte das Thema im Kontext seiner jeweiligen Zeit und seines gesellschaftlichen Hintergrunds. Auch im Rahmen des ERC Synergy Grants „Taming the European Leviathan: The Legacy of Post-War Medicine and the Common Good“ werde ich mich in den kommenden sechs Jahren intensiv damit auseinandersetzen. Diesen Grant habe ich zusammen mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen eingeworben, um die Bedeutung von Gesundheit in verschiedenen Ländern Europas in der Nachkriegszeit zu untersuchen. Anhand dieser Frage scheint es möglich, gemeinsame europäische Werte zu identifizieren und die Frage zu beantworten, was Europa eigentlich zusammenhält – über die Systemgrenzen zwischen dem ehemaligen Ostblock und den kapitalistisch orientierten Ländern des Westens hinweg. Ich möchte aber betonen, dass ich persönlich meine Forschungsinteressen gar nicht so divers finde. Für mich gehen die Themen ineinander über und eins ergibt sich oft aus dem anderen.
Sie haben Ihr Grundstudium an der Universität Hamburg absolviert, sind dann aber nach England gegangen und haben seit 1994 an den Universitäten von Oxford und Kent (in Canterbury) studiert und gearbeitet. Was hat Sie ins Vereinte Königreich gezogen?
Mich fasziniert das Spannungsverhältnis zwischen der deutschen und der angloamerikanischen Geschichtsschreibung. In Deutschland fokussieren Forschende stark auf die quellenkritische Arbeit. In Großbritannien und Amerika wählen sie hingegen häufig eine eher essayistische, sogar narrative Herangehensweise und stellen die alltäglichen Erfahrungen der Menschen in den Vordergrund. Ich versuche in meiner Arbeit immer wieder aufs Neue, diese beiden Traditionen zusammenzuführen.
Sie haben sich intensiv mit der deutschen Geschichte beschäftigt, von der Weimarer Republik über die NS-Zeit bis zur DDR. Wird es Ihren Blickwinkel verändern, wenn Sie dies nicht mehr von Grossbritannien aus tun, sondern in Hamburg leben und forschen?
Ich glaube, dass eine gewisse Distanz für einen Historiker von Vorteil sein kann. Zum einen die zeitliche Distanz – auch in der neueren Geschichte braucht man aus meiner Sicht mindestens einen zeitlichen Abstand von ca.30 Jahren. Was übrigens bedeutet, dass die historische Erforschung der DDR-Zeit mit all ihren Widersprüchlichkeiten eine zunehmende Multiperspektivität möglich macht. Aber auch eine räumliche Distanz kann hilfreich sein. Man ist nicht im selben Maße Teil des Systems und muss beispielsweise weniger Rücksichten auf politische Aspekte nehmen. Oder auf das Nationalgefühl und damit zusammenhängende Tabus, wenn besonders sensible Themen berührt werden, wie das in meinen Forschungen oft der Fall war. Ich bin also sicher, dass die Veränderung meines Wohnortes zu einem Perspektivwechsel führen wird – ohne jedoch schon genau vorhersagen zu können, wie dieser sich äußern wird.
Was bedeutet es für Sie, dass Sie eine Nucleus-Professur antreten, und worauf freuen Sie sich bei Ihrer Rückkehr an die Universität Hamburg besonders?
Ich finde es reizvoll, dass ich im Rahmen der Nucleus-Professur wieder ein interdisziplinäres Forschungszentrum aufbauen und damit eine Basis für die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Menschen und Disziplinen schaffen kann. In Kent habe ich das „Centre for the History of Medicine, Ethics and Medical Humanities” geleitet. An der Universität Hamburg möchte ich etwas Ähnliches initiieren. Darüber hinaus bin ich beeindruckt, was die Universität im Rahmen der Exzellenzstrategie geleistet hat und ich freue mich darauf, ab dem Herbst daran teilzuhaben. Meine künftigen Kolleginnen und Kollegen haben mich in den ersten Gesprächen außerordentlich freundlich aufgenommen und auf die Zusammenarbeit mit ihnen freue ich mich ebenfalls sehr.
Nucleus-Professuren
Nucleus-Professuren wurden im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder von der Universität Hamburg neu geschaffen. Sie übernehmen eine zentrale Rolle bei der Stärkung von Potenzialbereichen. Die Berufung einer führenden Forscherpersönlichkeit soll hierfür eine Initialwirkung haben. Davon verspricht sich die Universität Hamburg nicht nur einen Zugewinn an Forschungskompetenz, sondern auch eine Stärkung der forschungsorientierten Lehre.