Willkommen an BordVorannahmen hinterfragen und sich auf Perspektivwechsel einlassenProf. Dr. Barbara Henning verstärkt die Geisteswissenschaften
16. Oktober 2024, von Henning/Red.
Foto: Ulli Wrede
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Turkologin Prof. Dr. Barbara Henning.
Prof. Dr. Barbara Henning ist zum Wintersemester 2024/25 von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz nach Hamburg gekommen und hat an der Fakultät für Geisteswissenschaften eine Professur für Turkologie angetreten.
Mein Forschungsgebiet in drei Sätzen:
Als Historikerin nehme ich in meiner Forschung die Geschichte der Türkei und des Osmanischen Reichs in den Blick. Dabei interessiert mich besonders, wie historische Akteurinnen und Akteure Übergangsprozesse erlebt und bewältigt haben – zum Beispiel das Ende des Osmanischen Reichs und das Aufkommen neuer Grenzziehungen und Nationalstaaten in der Region nach dem Ersten Weltkrieg. Um darüber mehr zu erfahren, schaue ich mir beispielsweise Bildungsbiographien, die Übersetzung von Status und Privilegien oder auch sich verändernde sprachliche Landschaften an.
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Am anschaulichsten am Schlagwort „Turkologie“ ist der Bezug zu einer meiner zentralen Forschungssprachen, Türkisch. Turkologie funktioniert dabei ganz ähnlich wie die besser bekannten Fächer Germanistik oder Anglistik: Die Sprache wird zum entscheidenden Schlüssel, um mehr über die Geschichte, Literatur, religiöse Vorstellungen und den Alltag von Menschen in den Regionen, die früher Teil des Osmanischen Reiches waren, herauszufinden – und das sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit.
Dabei sind Zusammenhänge jedoch bei genauerem Hinsehen oft mehrsprachig geprägt oder wirken weit über die Grenzen der heutigen Türkei hinaus. Für ein umfassendes Verständnis müssen zum Türkischen und Osmanischen deswegen häufig noch Arabisch und andere Kontaktsprachen hinzukommen. Zudem geraten Regionen im erweiterten Mittelmeerraum oder sogar darüber hinaus in den Blick. Daher ist das Label „Turkologie“ auch ein bisschen irreführend. In diesem Spannungsverhältnis zu arbeiten, Vorannahmen immer wieder auf die Probe zu stellen und Verbindungen nachzuspüren macht aber auch sehr viel Spaß.
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
Ich freue mich auf eine intensive Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in den benachbarten Fächern wie Islamwissenschaft, Iranistik und Geschichtswissenschaft in Forschung und Lehre. Ich bin sehr gespannt auf die neuen Anregungen und Impulse, die aus diesem Austausch entstehen werden und teilweise jetzt schon entstehen, zum Beispiel zu Fragen der Kontaktlinguistik oder im vergleichenden Nachdenken über genealogische Vorstellungen.
Ich freue mich darauf, gemeinsam mit meinem Team die Lehre in unserem Fach in einer Zeit schneller und spannender Veränderungen so zu gestalten, dass noch mehr Studierende Lust darauf bekommen und gut gerüstet sind, sich mit der Geschichte der Türkei und des Osmanischen Reichs zu beschäftigen. Und nicht zuletzt bin ich sehr neugierig darauf, die Geschichte der Stadt Hamburg genauer zu erkunden und dabei ganz sicher auch Verbindungen zur osmanischen und türkischen Geschichte zu entdecken.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
Die Beschäftigung mit der Geschichte der Türkei und dem Osmanischen Reich regt dazu an, eigene Vorannahmen zu hinterfragen und sich auf Perspektivwechsel einzulassen: Passen unsere Terminologie und die dahinterliegenden Vorstellungen wirklich auf Kontexte außerhalb der europäischen Geschichte? Welche Begriffe, Fragestellungen und Befunde sind vielleicht stattdessen denkbar?
Die Arbeit mit der Quellensprache Osmanisch, in die Elemente aus dem Türkischen, Arabischen und Persischen Eingang gefunden haben, wirkt dabei entschleunigend: Ihre Komplexität zwingt uns, ganz genau hinzuschauen und verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten gleichzeitig im Kopf zu halten. Dieser Einsatz lohnt sich aber, denn so haben Studierende schon früh in eigenen Forschungsprojekten Einblick in kaum oder noch gar nicht bearbeitetes Quellenmaterial und finden schnell und auf Augenhöhe Anschluss an aktuelle Diskussionen in der Forschung.
In einem kleinen Fach wie der Turkologie lässt sich eine intensive und individuelle Betreuung besonders wirksam umsetzen. So kann ich Studierende gut dabei unterstützen, ihr eigenes Forschungsprofil zu entwickeln und dabei ihre Interessen, Vorkenntnisse und Stärken einzubringen.
Das sind meine Pläne an der Uni Hamburg:
Ich möchte Turkologie und Osmanistik noch stärker transregional denken und frage deshalb gezielt nach Verflechtungen in benachbarte Regionen und zeitlich angrenzende historische Kontexte – immer auf der Suche nach produktiven gemeinsamen und interdisziplinären Fragestellungen.
In den letzten Jahren habe ich im DFG-Schwerpunktprogramm „Transottomanica“ mitgewirkt und konnte genau zu diesem Perspektivwechsel in Richtung Verflechtungsgeschichte spannende Überlegungen mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen Fächern anstellen: Was passiert, wenn wir gemeinsam auf den osmanisch geprägten Interaktionsraum blicken und kartieren, wie sich Akteurinnen und Akteure, Waren und Ideen darin bewegen und verändern? Die Begeisterung dafür wirkt bei mir weiter nach, und ich habe mir vorgenommen, sie insbesondere auch in eine forschungsnahe Lehre zu tragen.
Blick in die weite Welt – mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:
Neben Partnerinnen und Partnern in der Türkei, in den USA und in Frankreich ist im Moment der Nordirak ein wichtiger Referenzpunkt für meine Forschungsarbeit. Im letzten Jahr habe ich mit Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten Erbil und Graz gemeinsam mit einem Schulmuseum im Nordirak ein Projekt zum Thema Bildungsgeschichte umgesetzt. Hier ging es darum, Teile der Ausstellung im Museum auch digital zugänglich zu machen. Flankiert haben wir diesen Austausch durch eine gemeinsame Studie zu den Bildungsbiographien und Netzwerken der Lehrer, die an dieser Schule seit dem frühen 20. Jahrhundert tätig waren. Mit den Lehrerverzeichnissen im Schularchiv stand uns dabei eine einzigartige und anschauliche Quelle zur Verfügung, die unter anderem Porträtfotos aller eingetragenen Lehrer enthält.
Auch in meiner Lehre kommt diese Kooperation mit dem Nordirak zum Tragen: Im letzten Semester haben meine Studierenden gemeinsam mit irakischen Kommilitoninnen und Kommilitonen Berichte von Reisenden im Mittelmeerraum aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gelesen und ihre Beobachtungen online diskutiert. Für das Sommersemester 2025 ist eine Fortsetzung geplant.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig:
Eine Aufgabe der Turkologie und Osmanistik ist es, immer wieder Warnschilder aufzustellen: „Achtung, nicht so schnell verallgemeinern! Achtung, hier wird es kompliziert!“ Gerade die Forschung zu historischen Übergangsprozessen im post-osmanischen Kontext trägt dazu bei, ein nuanciertes Verständnis für Dynamiken und Phänomene zu entwickeln, die bis heute Auswirkungen auf politische und gesellschaftliche Strukturen im Nahen Osten haben und auch aktuelle Herausforderungen prägen.
Die Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen, Lebensgeschichten und Mikrostudien aus spätosmanischer Zeit hilft dabei, die vorherrschenden Erzählungen nationalstaatlicher Geschichtsschreibung einzuordnen und zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit osmanischen und türkischen Quellen verweist uns immer wieder auf die Vielstimmigkeit, Komplexität und Eigenlogik dieser von Mehrfachzugehörigkeiten und Ambivalenzen geprägten historischen Zusammenhänge.