Willkommen an Bord„Wenn man ihre historischen Wurzeln kennt und versteht, lassen sich viele zeitgenössische Konflikte besser verstehen“Prof. Dr. Julia C. Schneider verstärkt die Geisteswissenschaften
7. Oktober 2024, von Schneider/Red.
Foto: privat
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Sinologin Prof. Dr. Julia C. Schneider.
Prof. Dr. Julia C. Schneider ist zum Wintersemester 2024/25 vom University College Cork an die Universität Hamburg gekommen und hat eine Professur für Sinologie an der Fakultät für Geisteswissenschaften angetreten.
Mein Forschungsgebiet in drei Sätzen:
Ich bin sinologische Historikerin (oder historische Sinologin?) auf den Gebieten der Historiographie und der Geistes- und Konzeptgeschichte. Besonders interessiert es mich, althergebrachte, etablierte historische Narrative – häufig aus der Perspektive der, ganz generell gesagt, Mächtigen entstanden – zu identifizieren, kritisch zu betrachten und gegebenenfalls umzuwerfen.
Mein besonderes Interesse gilt der Darstellung nicht-chinesischer ‚Anderer‘ – früher als ‚Barbaren‘, heute als ‚ethnische/nationale Minderheiten‘ bezeichnet – in chinesischen Texten vor allem aus der Mingzeit (1368–1644) und aus der späten Kaiser- und Republikzeit (ca. 1890er–1940er).
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Mich interessiert, wie Historiographie, also Geschichtsschreibung, funktioniert. Ganz einfach gefragt: Wer schreibt was warum auf? Warum und wie werden beispielsweise bestimmte Vorstellungen, die wir von historischen Ereignissen haben, verstärkt oder abgeschwächt? Warum werden in der ‚üblichen‘ Geschichtsschreibung bestimmte Personen und Geschehnisse immer wieder erwähnt und andere verschwiegen? Welche politischen Zwecke kann Geschichtsschreibung erfüllen und für wen?
Diese Fragestellungen finde ich besonders in Bezug auf marginalisierte Gruppen wichtig: Mein Hauptinteresse gilt ethnischen Minderheiten und ihren Vorläufern im ost- und innerasiatischen Kontext, vor allem mandschurischen, mongolischen, tibetischen und turksprachigen Gruppen. Insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Nationalismus stehen diese Gruppen wie beinahe überall auf der Welt aufgrund ihrer Positionen als Minderheiten gegenüber einer Mehrheitskultur besonderen Schwierigkeiten gegenüber, wenn es um die Ausübung ihrer Kulturen, Sprachen und Religionen geht. Diese Schwierigkeiten haben lange historische Wurzeln. Wenn man diese Wurzeln kennt und versteht, lassen sich viele zeitgenössische Konflikte verstehen – wenn auch leider nicht lösen.
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
An der Universität freue ich mich vor allem auf engagierte Studierende, die Interesse für China, Ost- und Innerasien haben und die in Hamburg gegebene Möglichkeit nutzen, Sinologie in großer Tiefe und Breite zu studieren, und darauf, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten zu können, die sich für ähnliche Regionen und Fragestellungen wie ich interessieren.
Ich freue mich auch darauf, die Stadt endlich richtig kennenlernen zu können – ich war bislang nämlich nur drei Mal kurz in Hamburg, und dass, obwohl meine Großmutter teilweise dort aufgewachsen ist und hier nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Kindern unterkam. Es ist also höchste Zeit für mich, Hamburg zu erkunden!
Das sind meine Pläne an der Uni Hamburg:
Ich plane, meine Lehre möglichst nah an meiner eigenen Forschung anzubieten. Darauf freue ich mich schon sehr, da ich diese Möglichkeit an meinem vorherigen Tätigkeitsort am University College Cork in Irland nicht so sehr hatte.
Ich werde Übersetzungskurse in klassischem Chinesisch und Mandschurisch, Seminare zu Fragen der Herrschaftsstrategien der Ming- und Qingdynastien und zum frühen chinesischen Nationalismus anbieten. Über die nächsten Semester plane ich, Lehrveranstaltungen zu weiteren Themen zu entwickeln, mit denen ich mich seit einiger Zeit befasse: einerseits Fragen der Herrschaftsstrategien in den großen Reichen in Eurasien, also die Reiche der Qing, Moguln, Safawiden, Osmanen und Romanows, wenn möglich in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachbereichen. Und andererseits die Buchzensur in der Qingzeit des 18. Jahrhundert mit einem Augenmerk auf chinesischen Texten über Nicht-Chinesen.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
Mich begeistert das, was ich erforsche, und ich hoffe, zumindest einen Teil dieser Begeisterung durch meine Lehre auch auf Studierende zu übertragen. Wen chinesische, ost- und innerasiatische Geschichte, die kritische Hinterfragung von Geschichtsschreibung und Fragen zu nicht-chinesischen ethnisch-kulturellen Minderheiten interessieren, der ist in meinen Veranstaltungen richtig.
Zudem übersetzen wir zusammen Texte aus dem literarischen Chinesisch, einer in ihrer Kompaktheit ganz besonderen Schriftsprache. Und natürlich freue ich mich über Sprach-Aficionados und solche, die es werden wollen, die mit mir zusammen eine weitere wunderschöne Schriftsprache lernen möchten, nämlich Mandschurisch.
Blick in die weite Welt – mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:
Die Sinologie ist per se eine sehr internationale Fachrichtung. Ich habe bislang ausschließlich auf Englisch publiziert und auch meine Forschung fast nur auf Englisch vorgestellt. Ich forsche zwar kaum in Forschungsverbünden, da das in meinem Fachbereich auch eher unüblich ist, habe aber viele Forschungskontakte zu Kolleginnen und Kollegen an internationalen Universitäten, mit denen ich zum Beispiel Workshops organisiere oder Bücher herausgebe.
Da ich in Heidelberg studiert, in Gent in Belgien promoviert und in Göttingen sowie Cork in Irland gelehrt habe, habe ich zu Kolleginnen und Kollegen der dortigen Universitäten natürlich besonders enge Verbindungen. Aber auch mit Kolleginnen und Kollegen unter anderem in Neapel, Dublin, Wien, London, Lancaster, St. Andrews und Tianjin verbinden mich laufende Projekte und Forschungskontakte, die ich natürlich auch von Hamburg aus aufrechterhalten werde.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig:
In den vergangenen Jahren haben uns immer schlimmere Nachrichten aus Xinjiang im Westen der Volksrepublik China erreicht. Nachdem Überwachungsmaßnahmen der turksprachig-muslimischen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Region durch Kameras, Kontrollstationen und Sicherheitspersonal immer engmaschiger wurden, wurden schließlich Millionen dieser uigurischen, kasachischen, kirgisischen, usbekischen und tadschikischen Menschen – darunter Kinder und Alte – durch ein Konzentrationslager- und Gefängnissystem geschleust, wo sie Gehirnwäsche, Unterversorgung und sogar Folter ausgesetzt waren. Dieses System dauert an.
Meine Forschung zur Entwicklung des chinesischen Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zu chinesischen Vorstellungen des ‚barbarischen Anderen‘ in der Mingzeit erklärt, welche historischen Narrative zu dem Bild, das die chinesische Regierung und auch Öffentlichkeit von nicht-chinesischen Minderheiten hat, beigetragen haben.
Was ist die historische Basis der Minderheitenpolitik der Kommunistischen Partei Chinas, oft fälschlich als ‚Assimilierungspolitik‘ bezeichnet und meist nichts weiter als Unterdrückung nicht-chinesischer Kulturen, Sprachen und Religionen? Indem ich versuche, die historischen Wurzeln dieses Diskurses aufzudecken, hoffe ich, dazu beitragen zu können, dass die heutige Situation besser verstanden wird.