100 Jahre Universität HamburgZur Bilanz eines gesamtuniversitären Forschungsprojekts
12. September 2024, von Rainer Nicolaysen
Foto: UHH/Rheinländer
Es ist vollbracht! Mit dem Erscheinen ihres letzten Bandes wurde die Jubiläumspublikation „100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in vier Bänden“ zum Abschluss gebracht. Beteiligt waren insgesamt 135 Autorinnen und Autoren, deren 86 Beiträge nun 3.077 überwiegend intensiv annotierte Seiten füllen. Damit handelt es sich um das größte Publikationsprojekt, das es bisher zur Geschichte unserer Universität gegeben hat.
Als 2016 die Planungen für eine mehrbändige Veröffentlichung zur Hamburger Universitätsgeschichte anlässlich des Jubiläums im Jahr 2019 langsam Gestalt annahmen, war mir als Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte und Verantwortlichem für das Projekt dreierlei von vornherein klar: Erstens sollte das 100-Jahr-Jubiläum unbedingt genutzt werden, um der Erforschung der Hamburger Universitätsgeschichte substanziell und weitflächig einen Schub zu verleihen, wobei kein Zweifel daran bestand, dass die mehrbändige Publikation nicht drei Jahre später zum Jubiläum selbst würde vorliegen können. Zweitens sollte die Veröffentlichung ausdrücklich keine traditionelle Festschrift sein, sondern wissenschaftliche Studien bündeln, die – nach den Standards moderner Universitätsgeschichtsschreibung – möglichst vielschichtige Einblicke in die Komplexität von Universität bieten sollten. Drittens war ein solches Projekt nicht von einem einzelnen Herausgeber zu „stemmen“; es war also ein Team zu bilden, das langen Atem beweisen und jahrelang auch ohne signifikante Ressourcen durch dick und dünn gehen würde.
Das Herausgeberteam bestand schließlich aus dem Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, seinem 2008 in den Ruhestand verabschiedeten, aber weiterhin aktiven Vorgänger Eckart Krause und dem von 2017 bis 2020 auf einer befristeten Projektstelle angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiter Gunnar B. Zimmermann. Dieses Trio hat sich in Arbeit und Freundschaft bewährt, auch wenn die Rahmenbedingungen nicht unproblematisch waren: Eckart Krause, der in der Schlussphase unserer Arbeit sein 80. Lebensjahr vollendet hat, stellte seine Arbeitskraft ehrenamtlich zur Verfügung; Gunnar Zimmermanns Stelle wurde in der Hochphase des Projekts, noch vor Erscheinen von Band 1, nicht verlängert.
Wie bei jedem größeren wissenschaftlichen Vorhaben wussten auch wir bei dessen Beginn nicht, worauf wir uns eigentlich einließen. Inzwischen liegen Jahre intensiver fachlicher, formaler, sprachlicher und organisatorischer Arbeit hinter uns – und der produktive, anregende Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus nahezu allen Wissenschaftsdisziplinen und Bereichen unserer Universität. Bereits vom Sommersemester 2017 bis zum Sommersemester 2019 konnten vorläufige Forschungsergebnisse in der Ringvorlesung „(Fast) 100 Jahre Universität Hamburg“ vorgestellt und diskutiert werden. Ein größerer Teil dieser 62 Vorträge ist über Lecture2Go als Video abrufbar. Ab 2020 erschienen dann die Bände in schöner Ausstattung im renommierten Wallstein Verlag in Göttingen. Der jährliche Veröffentlichungsrhythmus wurde grundsätzlich eingehalten; nur der voluminöse vierte Band hat sich zuletzt etwas verzögert.
Als ich kurz nach Erscheinen von Band 1, Ende 2020, in einem ZEIT-Interview freundlich gefragt wurde, ob die geplanten „3.000 Seiten für hundert Jahre“, nicht „nach sehr viel Geschichtsschreibung für ziemlich wenig Geschichte“ klängen, konnte ich diese Außenwahrnehmung durchaus nachvollziehen – um dann aber zu entgegnen, dass die vier Bände für viele Bereiche und auch Fachgeschichten eher einen Anfang der Forschung bilden als einen wie auch immer gearteten Abschluss. Denn trotz des Umfangs der Publikation bleiben noch ganze Bereiche universitären Lebens ausgeblendet, große Quellenbestände harren nach wie vor der Erschließung, viele Fragen wurden überhaupt noch nicht gestellt. Ausdrücklich sollen insofern die vier Bände „100 Jahre Universität Hamburg“ weitere Forschungen zur Universitätsgeschichte über den Jubiläumsanlass hinaus anregen und zu einer kontinuierlicheren Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des eigenen fachlichen und universitären Umfeldes motivieren. Manche Autorinnen und Autoren haben sich auf diesen Weg begeben – allen voran der langjährige Vizepräsident für Studium und Lehre Holger Fischer, der ausgehend von seinem Aufsatz zu diesem Thema in Band 1 inzwischen eine mehr als 600-seitige Monographie verfasst hat, die im letzten Jahr unter dem bezeichnenden Titel „Semper reformanda“ ebenfalls im Wallstein Verlag in den „Hamburger Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte“, der zentralen Schriftenreihe der Universität Hamburg, erschienen ist.
Diesen sonst in der Universitätsgeschichte vernachlässigten Bereich von Studium und Lehre zu einem Schwerpunkt zu machen, verweist auch auf das Konzept unseres Projekts, das wir in Band 1 vorgestellt haben. Dort heißt es einleitend:
„Diese Publikation ist keine Festschrift. Sie soll es jedenfalls nicht im Sinne einer traditionellen Jubelschrift, einer selbstgewissen Rückschau oder einer stolzen Leistungsbilanz sein. Universitätsgeschichte, die als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft etwa seit Mitte der 1990er Jahre national wie international einen Aufschwung und fortlaufende Professionalisierung erlebt, sucht inzwischen anderen Ansprüchen gerecht zu werden. Knapp gesagt, geht es darum, Universitäten als wissenschaftliches Forschungsobjekt zu untersuchen wie jedes andere auch.
Dabei sind die Wandlungen universitärer Aufgaben in der Forschung, in der akademischen Ausbildung und in der (Allgemein-)Bildung ebenso in den Blick zu nehmen wie die vielfältigen Verflechtungen von Universität mit Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Nachdem Universitätsgeschichte, zumal universitäre Festschriften, lange Zeit weitgehend auf eine Geschichte bedeutender Gelehrter, auf Genealogien von Lehrstuhlinhabern konzentriert blieb, zielt eine multiperspektivische Universitätsgeschichte darauf, alle einzubeziehen, die Universität ausmachen: neben den Lehrenden aller Statusgruppen auch die Studierenden und das bislang nur selten thematisierte Technische und Verwaltungspersonal. Sozial- und kulturhistorisch inspiriert, fragt Universitätsgeschichte heute etwa nach dem Selbstverständnis und der Fremdwahrnehmung von Universitäten, nach Selbstdarstellung und Traditionskonstruktion, nach Habitus und Repräsentation, nach sozialen und kulturellen Praktiken, nach Geschlechterverhältnissen in einem kategorialen Sinn, nach räumlichen und materiellen Dimensionen, nach Beziehungen der Universitäten zu anderen akademischen und außerakademischen Einrichtungen, nach ihrer Interaktion mit Politik und Öffentlichkeit.“
Inwieweit wir selbst den hier formulierten Ansprüchen an eine zeitgemäße Universitätsgeschichtsschreibung gerecht werden konnten, ist über die mehr als 3.000 Seiten hin kaum einheitlich zu beantworten. Aber vielleicht zeigt sich gerade in einer gewissen Heterogenität der Beiträge, ihrer Themenwahl und methodischen Zugänge, ihres sprachlichen und analytischen Zugriffs die Spannweite von Fächerkulturen, Denkweisen und Individuen, die alle zusammen „Universität“ konstituieren. Im Übrigen bleibt die Beurteilung anderen überlassen; die Rezeption der einzelnen Bände hat schon begonnen. Zu unserer Freude ist sie überaus positiv.
Besonders erfreulich im Sinne der Herausgeber ist es etwa, wenn der Freiburger Romanist und Wissenschaftshistoriker Frank-Rutger Hausmann davon spricht, dass die Hamburger Bände „der Universitäts-Geschichtsschreibung neue ‚demokratische‘ Perspektiven eröffnen und für zukünftige Arbeiten dieses Genres eine Vorreiterrolle reklamieren können“, wenn der Münsteraner Bildungshistoriker Jürgen Overhoff „gebannt“ dem Verhältnis von Demokratie und Universität als Narrativ unserer Bände folgt, oder wenn, wie zuletzt, der Berliner Historiker Peter Steinbach in einer Besprechung der Bände 1 bis 3 erklärt, diese Hamburger Universitätsgeschichte setze wissenschaftshistorisch Maßstäbe und repräsentiere exemplarisch die „neuere Forschung“ zu Universitäten.
Als wir mit dem Projekt begannen, waren die Voraussetzungen für Studien zur 100-jährigen Geschichte der Universität Hamburg je nach Zeitabschnitt, Fächern und Bereichen sehr unterschiedlich. Zur Vorgeschichte der Universität und zu ihrer Frühphase in der Weimarer Republik lagen einige Studien vor, und die NS-Zeit war der am systematischsten erforschte Zeitraum der Hamburger Universitätsgeschichte. Das hing mit einem anderen, in den 1980er Jahren von Eckart Krause koordinierten Gemeinschaftsprojekt unserer Universität zusammen, das 1991 in das dreibändige Werk „Hochschulalltag im ‚Dritten Reich‘“ mündete, die bis dahin umfangreichste Darstellung einer Universität im Nationalsozialismus. Das damalige Projekt war auch die Keimzelle der heutigen Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte.
Während es zur Geschichte unserer Universität bis 1945 also vergleichsweise viele Untersuchungen gab, war die Zeit nach 1945 und insbesondere die nach 1970 noch weitgehend unerforscht. Dieses Desiderat betraf mithin nicht weniger als drei Viertel der besagten 100 Jahre: die nach-nationalsozialistische Zeit bis zur Abschaffung der Ordinarienuniversität 1969, die Reformuniversität der 1970er bis 1990er Jahre und die seit der Jahrtausendwende sich erneut grundlegend wandelnde Universität bis in die Gegenwart. Auch wenn zur Erforschung dieser Phasen immer noch viel zu tun bleibt, erweisen sich die jetzt vorliegenden vier Bände dazu als wahre Fundgrube und als Fundament für weitere Studien.
Die „allgemeinen Aspekte und Entwicklungen“, die in Band 1 behandelt werden, umfassen zahlreiche Themen, die in Universitätsgeschichten ansonsten meist zu kurz oder gar nicht vorkommen, im Alltag der Institution und für ihr Verständnis aber zentral sind. So geht es etwa um das Verhältnis von Stadt und Universität, um Studium, Lehre und Studierende, um die Geschichte von Studienberatung und Weiterbildung, um Geschlechtervorstellungen und verhinderte oder gehemmte Karrierewege von Frauen, um Ambivalenzen von Ehrenpromotionen, um Aspekte der Festkultur, um die Geschichte der Universitätsbauten, um Kunstschätze und Wissenschaftliche Sammlungen, um internationale Beziehungen und gelebte Transkulturalität, um die Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek und des Regionalen Rechenzentrums – und um vieles mehr.
Die Bände 2 bis 4 widmen sich einzelnen Fächern und ihrer Entwicklung, pragmatisch gegliedert nach den heute bestehenden acht Fakultäten der Universität. Hinsichtlich des methodischen Zugangs und des Themenzuschnitts der einzelnen Beiträge wurde ein weites Spektrum nicht nur zugelassen, sondern ausdrücklich begrüßt, zugleich aber Wert darauf gelegt, dass die Merkmale einer multiperspektivischen Universitätsgeschichtsschreibung nicht aus dem Blick geraten. Zudem wurde von den Herausgebern alles dafür getan, dass die aus unterschiedlichen Fächerkulturen stammenden Beiträge schon in der Umsetzung einheitlicher „handwerklicher“ Standards als Teile eines Gesamtwerks erkennbar bleiben.
Das Spektrum der behandelten Fächer zeigt die enorme Vielfalt der Universität Hamburg und manche ihrer Spezifika: von der Klimaforschung bis zu den zahlreichen fremden Sprachen und Kulturen, von der Physik bis zur Friedensforschung, von der Mathematik bis zur Gebärdensprache, von der Lehrer/innenbildung bis zur Sexualwissenschaft – um nur diese exemplarisch zu nennen. Für die jeweiligen Fach- und Institutsgeschichten wurden unterschiedliche Wege gewählt: Mal entschieden sich die Autorinnen und Autoren für eine Überblicksdarstellung von den Anfängen bis zur Jahrtausendwende (oder auch darüber hinaus), mal für eine Konzentration auf einen bestimmten Zeitraum, einen besonderen thematischen Ausschnitt oder eine Fallstudie. Während für die erste Hälfte der 100 Jahre häufig Archivquellen herangezogen werden konnten, spielten bei der Schilderung der jüngeren Geschichte eigene Erfahrungen an der Universität Hamburg eine nicht unerhebliche Rolle. Da alle Autorinnen und Autoren Mitglieder dieser Universität sind oder waren, hatten alle auch ihre eigene Nähe zum „Forschungsgegenstand“ und bei Darstellung der jüngeren Vergangenheit die eigene Rolle an der Universität Hamburg als methodisches Problem zu reflektieren. Ohne diese Zeitzeugenschaft allerdings, ohne besondere Binnenkenntnisse, wären viele Aspekte, die in den Bänden dokumentiert werden können, unbekannt geblieben und damit verloren gegangen.
Für die Herausgeber war es ein Privileg, in all diese Mikrokosmen unserer Universität einzutauchen. Dabei stellt sich auch das Gefühl ein, dass die verschiedenen, sich vermeintlich kaum berührenden Bereiche einer Universität doch irgendwie zusammengehören und dass alle Fächer auf je ihre Weise in Forschung und Vermittlung dazu beitragen, unsere Welt besser zu verstehen – und im besten Fall auch positiv mitzugestalten. Es war jedenfalls eine wunderbare Erfahrung, dass mehr als 100 Menschen quer durch alle universitären Felder an unserem Projekt mitgewirkt und dieses schließlich gemeinschaftlich zum Gelingen gebracht haben.
Ausdruck fand die Besonderheit dieses Gemeinschaftsprojekts in seiner Abschlussveranstaltung am 28. Juni 2024 im Ernst-Cassirer-Hörsaal, als viele Autorinnen und Autoren anwesend waren und gemeinsam mit anderen Beteiligten, Unterstützenden und Interessierten, samt Reden von Universitätspräsident Hauke Heekeren und Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, eine beflügelnde Atmosphäre erzeugten. Der Coup des Abends war der „Festvortrag“ von Vizekanzler Robert Habeck, der als Alumnus der Universität Hamburg das Forschungsprojekt würdigte, über seine eigene Studienzeit berichtete und mit seinen Reflexionen über Wesen und Aufgaben von Universitäten für einen Ausklang ganz im Sinne unseres Projekts sorgte – indem er zum Weiterdenken und zum Weiterarbeiten einlud.
Der Autor
Prof. Dr. Rainer Nicolaysen ist seit 2010 Wissenschaftlicher Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte der Universität Hamburg. Er ist Hauptherausgeber der Publikation „100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in vier Bänden“ (Göttingen, Wallstein Verlag 2020-2024). Mitherausgeber sind Eckart Krause und Gunnar B. Zimmermann.