„Willkommen an Bord“„Geschichte sollte mit größtmöglicher Objektivität studiert werden, denn die Vergangenheit ist immer sehr kompliziert.“Prof. Dr. Hewan Semon Marye verstärkt die Geisteswissenschaften
4. Mai 2023, von Marye/Red.
Foto: Yirga Woldeyes
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Äthiopistin Prof. Dr. Hewan Semon Marye.
Prof. Dr. Hewan Semon Marye ist zum Sommersemester nach Hamburg gekommen und arbeitet als Professorin für „Äthiopistik, insbesondere Gegenwartsfragen Nordostafrikas“ an der Fakultät für Geisteswissenschaften.
Mein Forschungsgebiet in drei Sätzen:
Ich befasse mich mit der Geschichte des modernen Äthiopiens, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht. Bisher habe ich mich vor allem mit den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft befasst. Jetzt interessiert mich viel mehr das Modernisierungsprojekt, das das Land im späten 19. Jahrhundert auf den Weg gebracht hat sowie die verschiedenen Bestrebungen, Überlegungen und (Un-)Möglichkeiten seiner Umsetzung.
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Ich forsche und lehre zu den verschiedenen Herausforderungen, Veränderungen und Umwälzungen sowie den immer noch drängenden Fragen, die Äthiopien in den vergangenen zweihundert Jahren beschäftigt haben. Ich stelle die Frage, welche Ziele die politische Elite verfolgte und welche Forderungen und Wünsche die verschiedenen Völker hatten.
Eine weitere Frage, die mich interessiert, ist, inwieweit die Modernisierung Äthiopiens tatsächlich ein staatlich gefördertes Projekt war und was die Frage in der heutigen Zeit noch interessant macht. Ich untersuche auch, inwieweit interkontinentale und internationale Kräfte die internen Bestrebungen beeinflussen.
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
Neben dem Charme der Stadt Hamburg ist hier die international führende Institution für Äthiopien- und Eritreastudien zu Hause, das Hiob Ludolf Centre for Ethiopian and Eritrean Studies (HLCEES). Es ist einer der großen Reize, in Hamburg zu forschen und zu lehren, dass ich dabei mit Menschen zusammenzuarbeite, die sich durch ihre Expertise in äthiopischer und eritreischer Geschichte, Philologie, Kunstgeschichte, politischer Geschichte und ähnlichem auszeichnen. Ich freue mich auch, wieder mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Asien-Afrika-Instituts zusammenzuarbeiten, an dem ich einst promoviert habe.
Diese Dinge möchte ich gerne etablieren:
Am HLCEES wird die Geschichte Äthiopiens und Eritreas vorwiegend mit dem Fokus auf der spätantiken bis mittelalterlichen Periode gelehrt und erforscht – mit Schwerpunkt auf handschriftlichen Überlieferungen und Philologie. Ich habe vor, über die moderne Periode der Geschichte dieser Region zu lehren und zu forschen. Dies bezieht sich auf den Zeitraum ab 1855 bis zur Gegenwart und auf Themen, die verschiedene Kulturen, Religionen, Traditionen sowie unterschiedliche historische Interpretationen umfassen. Interessierte Studierende haben so die Möglichkeit, auch diesen Zeitraum zu bearbeiten.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
Ich plane, Seminare zu geben, die sich um diese drei Kategorien drehen: „Reiche, Nationen, Regierungsführung, Begegnungen“, „Kulturen, Traditionen, Ideen“ und „Wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Ungleichheiten“. In meinen Kursen lernen die Studierenden nicht nur ein Land kennen, das auf eine mehr als tausendjährige Geschichte mit einer eigenen Tradition historischer Dokumentation zurückblicken kann und in dem uralte Religionen und Kulturen beheimatet sind. Sie können durch einen multidisziplinären Ansatz auch das moderne Äthiopien kennenlernen und studieren. Die Kurse werden den Studierenden ein solides Wissen über Geschichte, sozioökonomische Studien, eine Einführung in kulturelle Phänomene und die Bildungs- und Rechtstraditionen der Länder am Horn von Afrika und insbesondere Äthiopien und Eritrea vermitteln.
Blick in die weite Welt: mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:
Meine Studien in den Vereinigten Staaten (Amherst College) und in England (University of Oxford) haben es mir ermöglicht, Forschungskontakte zu Forschenden und Lehrenden zu knüpfen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem afrikanischen Kontinent und insbesondere mit Äthiopien beschäftigen. Die Anglo-Äthiopische Gesellschaft ist ein Beispiel dafür. Ich habe auch Kontakte zu Äthiopien-Spezialistinnen und -Spezialisten aus Australien und Frankreich.
Zudem habe ich Verbindungen zur Universität Addis Abeba, zur Universität Bahir Dar, zur Universität Gondar und zur Universität Woldiya. Ich möchte diese Beziehungen weiter ausbauen, indem ich Konferenzen organisiere und gemeinsam an Forschungsprojekten arbeite. Ich beabsichtige auch, interessierte Kolleginnen und Kollegen als Gastdozenten einzuladen. Dies kann über Online-Plattformen geschehen und hätten zum einen für die Studierenden viele Vorteile, würde aber auch die Universität Hamburg zu einem Anknüpfungspunkt für internationale Forschende machen.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig:
Dank der sozialen Medien (international) und einer radikal ethnisierten Politik (intern in Äthiopien) ist die Geschichte des Landes unglaublich politisiert. Ein Teil meiner Arbeit und Forschung über die äthiopische Geschichte wird daher von dem Bedürfnis angetrieben, zu zeigen, dass Geschichte mit größtmöglicher Objektivität studiert werden sollte, da die Vergangenheit immer sehr kompliziert ist.
Ich möchte zeigen, dass historische Interpretationen und Debatten mit Sorgfalt geführt werden sollten, da das Forschungsgebiet eine sehr genaue Betrachtung der Details und eine große Geduld erfordert, wenn es um Personen und Figuren geht, die nicht mehr für sich selbst und ihre Taten sprechen können.
Dies kann Studierenden helfen, die nötige Distanz, Geduld und Aufgeschlossenheit bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit zu entwickeln; Eigenschaften, die in einer Zeit, in der die Sensationslust (bei vielen Dingen im Leben) zum Mainstream gehört, kultiviert werden sollten und wachsen dürfen.
Das sind meine Pläne an der Uni Hamburg:
Neben dem Abschluss von Projekten und Monographien, die ich bereits vor meiner Ankunft in Hamburg begonnen habe, möchte ich in Hamburg zwei größere Forschungsvorhaben in Angriff nehmen.
Zum einen werde ich an den Schriften der beiden amharischen Zeitungen des frühen 20. Jahrhunderts arbeiten. Dabei handelt es sich um die „አእምሮ Aʾǝmǝro (Wissen)“ und „ብርሃንና ሰላም Bǝrhanǝnna sälam (Licht und Frieden)“. Es sind Zeitungen, die Prosaschriften, literarische Erzählungen und Gedichte enthalten. Überwiegend schrieben gebildete Literatur-Enthusiasten und Intellektuelle über die Modernisierung im europäischen Stil und die Beziehungen Äthiopiens zu Europa. Einige führten sogar Debatten über verschiedene Entwicklungsprozesse. Diese Publikationen waren auch das eigentliche Forum für Literaturwissenschaft und -kritik sowie für die Entwicklung der amharischen Sprache als ausgereiftes Ausdrucksmittel in diesen Bereichen. Ich möchte anhand der Zeitungsbeiträge den soziokulturellen und intellektuellen Kontext dieser Zeit untersuchen und die äthiopische Geschichte anhand der Fragen und Themen verstehen, die die gebildeten Äthiopier zu dieser Zeit beschäftigten.
Das andere Projekt ist die Biogragie von Ras Mäkwännǝn, dem Vater des letzten Kaisers von Äthiopien, Kaiser Ḫaylä Śǝllase I, der von 1930 bis 1974 regierte. Ras Mäkwännǝn diente als rechte Hand von Kaiser Mǝnilik II (1844–1913) und war zu dieser Zeit Außenminister Äthiopiens. Er ist bekannt für seine militärische Expertise, seine Kenntnis des Landes und die Führung der äthiopischen Streitkräfte während der Schlacht von Adwa im Jahr 1896, die zu seinen größten Erfolgen zählt.
Er nimmt einen großen Platz in der politischen und militärischen Geschichte Äthiopiens ein und spielte eine unbestreitbare Rolle bei der Förderung seines Sohnes, des zukünftigen Kaisers. Dies wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie sehr sich sein Sohn zu Europa hingezogen fühlte und wie sehr er sich den internationalen Angelegenheiten widmete. Abgesehen von einem kleinen Buch, das über sein Leben in Gǝ'ǝz geschrieben wurde, gibt es jedoch nur wenige andere ernsthafte Werke, die Ras Mäkwännǝn und seiner Geschichte gewidmet sind. Die Biografie wird diese Figur in die historische Diskussion einordnen und gleichzeitig die sozialen Veränderungen und Gedanken seiner Zeit, die Rechtstradition an seinem Hof und in Äthiopien, die frühe Neuzeit Äthiopiens und seine Beziehungen zum Westen während seines Lebens beleuchten.
Stiftungsprofessur der DeutschÄthiopischenStiftung
Die Juniorprofessur wurde als Stiftungsprofessur eingerichtet und wird von der DeutschÄthiopischenStiftung über sechs Jahre finanziert. Sie fördert Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Äthiopien- und Nordostafrikastudien. Vor dem Hintergrund des Wandels der nordostafrikanischen Gesellschaften liegt der Schwerpunkt der Stiftungsarbeit auf der Unterstützung der geistig-kulturellen Entfaltung am Horn von Afrika. „Die Besetzung mit einer jungen Wissenschaftlerin aus Afrika, die an einer deutschen Universität forscht und lehrt, ist eine ideale Voraussetzung, um die entscheidenden Fragen der Zukunft Afrikas und der afrikanisch-deutschen Beziehungen zu diskutieren. Ein Pilotprojekt, um die Studierenden auf die künftigen Herausforderungen vorzubereiten und unsere und die Perspektive Afrikas praxisnah zu behandeln“, sagt Prof. Dr. Dr. Siegbert Uhlig, UHH-Professor im Ruhestand für Afrikanische Sprachen und Kulturen mit Schwerpunkt Äthiopistik sowie Vorstand der DeutschÄthiopischenStiftung.