„Willkommen an Bord“„Jeder Mensch hat ein Grundrecht darauf, Lesen und Schreiben zu lernen“Prof. Dr. Nadja Kerschhofer-Puhalo verstärkt die Geisteswissenschaften
18. November 2022, von Kerschhofer/Red.
Foto: Vera Puhalo
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Linguistin Prof. Dr. Nadja Kerschhofer-Puhalo.
Prof. Dr. Nadja Kerschhofer-Puhalo ist zum Wintersemester 2022/23 von der Universität Wien gekommen und wird am Institut für Germanistik der Fakultät für Geisteswissenschaften eine Professur für „Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt Schriftlinguistik“ antreten.
Mein Forschungsgebiet in wenigen Sätzen:
Schriftlinguistik verstehe ich als eine Querschnittmaterie, die sich mit Struktur, Gebrauch, Erwerb und Entwicklung von Schrift und Schriftlichkeit auseinandersetzt. Die Erforschung des Schriftspracherwerbs, von Schriftgeschichte und Schriftsystemen sowie von „Literacies“ im Sinne von Praktiken des Lesens und Schreibens in gesellschaftlichen Kontexten ist ein interdisziplinäres Projekt. Es erfordert die Zusammenführung von Beiträgen aus Psycholinguistik, deskriptiver, historischer und kontrastiver Linguistik, Textlinguistik und Diskursforschung, aber auch die Anbindung an die Erziehungswissenschaften, die Mehrsprachigkeitsforschung, die Literaturwissenschaft, die Medienwissenschaften und nicht zuletzt eine praxisbezogene Umsetzung in der Lehramtsausbildung.
Im Sinne von Ansätzen der Citizen Science und partizipativen Forschung binde ich in meinen Forschungsprojekten Kinder, Jugendliche und Erwachsene aktiv in die Projektarbeit ein, um ihre Sichtweisen und Lebenswelten als Lesende, Schreibende und Lernende in den Mittelpunkt zu stellen. Durch ihre Mitwirkung erhalten wir ein viel facettenreicheres Bild dessen, was Lesen, Schreiben und Lernen ausmachen kann und wie Lernschwierigkeiten entstehen, aber auch überwunden werden können.
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Ganz einfach gesagt beschäftige ich mich mit allem gerne, was mit Schrift und geschriebener Sprache zu tun hat. Ich muss dazu sagen, dass meine Kinder und meine Familie mich für viele der Fragen, die ich heute wissenschaftlich bearbeite, erst sensibilisiert haben: Was passiert in diesen (so flüchtigen) Momenten, in denen einem Kind plötzlich „der Knopf aufgeht“ und es Buchstabenfolgen zu Lautketten verbinden und damit lesen kann? Worauf ist zu achten, wenn man in einer neuen Sprache oder einem anderen Schriftsystem lesen lernt? Wie unterscheidet sich Schreiben und Lesen in digitalen Kontexten von „herkömmlichen“ Lese- und Schreibaktivitäten? Was bedeutet es in unserer Gesellschaft „der Schrift mächtig“ (oder eben auch nicht mächtig bzw. „illiterat“) zu sein? Und vor allem: Wie kann man Lernschwierigkeiten beim Lesen und Schreiben begegnen und was bedeutet das für die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern?
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
Die Universität Hamburg ist die erste Universität, die eine eigene Professur für Schriftlinguistik eingerichtet hat, und es ist mir ein unglaubliches Privileg, diese Professur anzutreten. In den letzten Wochen und Monaten hatte ich mit vielen meiner neuen Kolleginnen und Kollegen Kontakt und freue mich sehr über die Offenheit und Herzlichkeit, die mir hier entgegengebracht wird. Die Stadt Hamburg kenne ich tatsächlich noch gar nicht und freue mich sehr, sie zu entdecken, denn sie steht geographisch und historisch in sehr interessantem Kontrast zu meinem bisherigen Wohn- und Arbeitsort Wien.
Das sind meine Pläne an der Uni Hamburg:
Wichtig sind mir vor allem Kooperationen mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Instituten und Fakultäten. Gerade das Zentrum für Sprachwissenschaft mit seinen verschiedenen Kooperationsbereichen sehe ich da als interessante Struktur für gemeinsame Projekte wie zum Beispiel eine Ringvorlesung zur Schriftgeschichte oder fachübergreifende Projekte zu Schrift und Schriftlichkeit.
In Bezug auf Literalitätserwerb und Leseförderung möchte ich insbesondere mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Bereichen der Erziehungswissenschaften wie der Grundschulpädagogik, der Erwachsenenbildung und den Fachdidaktiken zusammenarbeiten, um linguistische, pädagogische und didaktische Forschungsperspektiven zusammenzuführen. Wie in meiner bisherigen Arbeit werde ich auch in Hamburg den Dialog mit außeruniversitären Bildungseinrichtungen aus der Erwachsenenbildung und Non-Profit-Organisationen suchen, um Literalität in außerschulischen Kontexten zu beforschen. Hier möchte ich wieder auf ein partizipatives und ko-kreatives Forschungsdesign setzen.
Sehr gespannt bin ich außerdem auf die Arbeit des Exzellenclusters „Understanding Written Artefacts“, weil ich selbst ursprünglich Altorientalistik studiert habe und eine besondere Affinität zu historischen Schriftzeugnissen habe. Dabei interessieren mich besonders Aspekte der Materialität von Geschriebenem in Abhängigkeit von Sprachen, Schriftsystemen und historischen und kulturellen Kontexten vergangener Zeiten.
Eines meiner aktuellen Lieblingsthemen ist der Status des Schreibens mit der Hand, dem im Zeitalter digitaler Technologien keine rosige Zukunft prophezeit wird, wobei aus meiner Sicht aber interessante Prozesse der funktionalen Diversifizierung zu beobachten sind, die ich gerne näher erforschen möchte.
Und ganz besonders freue ich mich auch über die Einladung, mit einem Teilprojekt zu „Literacy Narratives“ an dem geplanten Sonderforschungsbereich zu „Literacies in Diversity Contexts“ mitzuwirken.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
In meinen Lehrveranstaltungen möchte ich zeigen, welche Relevanz und welchen Mehrwert linguistische Zugänge für eine bessere Gestaltung von Lern- und Unterrichtsprozessen haben. Dabei beziehe ich mich auf aktuelle Forschungsbeiträge, praktische Beispiele aus meinen Projekten (Texte, Bilder, Videos) und auch auf bisherige Erfahrungen und Interessen der Studierenden.
Lernen bedeutet, Neues mit Bekanntem zu verknüpfen. Das gelingt vor allem dann, wenn ich mehr über die Studierenden und ihre Erfahrungen weiß. Besonders wichtig ist mir der Abbau von Berührungsängsten mit „der Linguistik“, die mit ihrem recht umfangreichen theoretischen Apparat auf den ersten Blick manche vielleicht abschreckt, aber die gerade im Bereich der Angewandten Sprachwissenschaften unglaublich viel zu bieten hat, um alternative wissenschaftliche Zugänge zu Alltagserfahrungen mit Schrift, Sprache(n) und sprachlicher und sozialer Diversität zu eröffnen.
Blick in die weite Welt: mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen werde ich zusammenarbeiten:
Internationale Kontakte pflege ich mit Kolleginnen und Kollegen in Frankreich, Kanada, den Niederlanden, Polen und der Schweiz. Wichtige Themenschwerpunkte sind unter anderem die Mehrsprachigkeitsforschung und Soziolinguistik. Weiter ausbauen möchte ich auch meine Kontakte zu Universitäten in Großbritannien, wo Forschung zu den Literacy Studies sowie zu Literalität und Multimodalität intensiv betrieben wird. Um das Feld der Schriftlinguistik besser zu etablieren, möchte ich auch im deutschsprachigen Raum auf Kooperationen setzen, zum Beispiel mit der Universität Zürich und der Universität Wien, wo Fragen der Schriftlinguistik aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig:
Jeder Mensch hat ein Grundrecht darauf, Lesen und Schreiben zu lernen und Zugang zu ausreichenden Lern- und Bildungsressourcen zu erhalten – und zwar unabhängig von Herkunft oder sozialem Status. Das ist für mich eine der wichtigsten Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben, für eine demokratische Gesellschaft, für Krisenresistenz und für individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse zur nachhaltigen Gestaltung der Zukunft.
Dazu brauchen wir fundierte Forschung, unterrichtliche, curriculare und schulorganisatorische Maßnahmen auf Basis aktueller Forschung und einen offenen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis, zwischen Universitäten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen und zwischen Lernenden und Lehrenden. Ich freue mich sehr darauf, diesen Dialog vom neuen Lehrstuhl an der Universität Hamburg aus mitzugestalten.