„Willkommen an Bord“„Ich hoffe, dass meine historische Forschung auch zur Lösung heutiger gesellschaftlicher Konflikte beiträgt“Prof. Dr. Shervin Farridnejad verstärkt die Geisteswissenschaften
2. September 2022, von Farridnejad/Red.
Foto: H.Tehrany/Berlin
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Philologe und Iranist Prof. Dr. Shervin Farridnejad, der unter anderem das Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ verstärkt.
Prof. Dr. Shervin Farridnejad ist im Sommersemester von der Freien Universität Berlin und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien gekommen und wird an der Fakultät für Geisteswissenschaften sowie am „Centre for the Study of Manuscript Cultures und am Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ eine Professur für „Iranistik / Geschichte, Sprache und Kulturen des Vorderen Orients“ antreten.
Mein Forschungsgebiet in drei Sätzen:
In meiner Forschung beschäftige ich mich vor allem mit den Sprachen, Religionen und Schriftzeugnissen der iranisch-sprachigen Völker seit der Antike und deren Fortwirken bis in die Gegenwart. Im Fokus stehen insbesondere die religiösen Traditionen des Zoroastrismus und das iranische Judentum, wobei der Schwerpunkt auf der geistigen und materiellen Kultur der Zoroastrier und der iranischen und persisch-sprachigen Juden im Iran, in Zentralasien und Indien sowie in der westlichen Diaspora liegt. Konkret arbeite ich derzeit an einer philologisch-religiösen Studie über die Tradition der zoroastrischen Literatur in Neupersisch zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert.
Gleichzeitig interessiere ich mich für die Geschichte und Gesellschaft der persophonen Welt, die sich weit über die Grenzen des heutigen Iran hinaus erstreckt und Teile des heutigen Tadschikistan, Usbekistan, Afghanistan und Pakistan bis nach Indien im Osten und Regionen in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, der Türkei, dem Irak und Syrien im Westen umfasst.
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Wie ein Detektiv, der ein Mysterium aufklärt, verrichte ich als Philologe mit einem religionswissenshistorischen Fokus eine Tätigkeit auf drei Ebenen, wobei die „corpora delicti“ die Handschriften sind! Im ersten Schritt werden die Handschriften und Dokumente unter materiellen Gesichtspunkten beleuchtet, also woraus sie hergestellt wurden. Dann untersuche ich sie unter sprachlichen und literarischen Aspekten, das heißt, ich muss sieentziffern, lesen, übersetzen und kommentieren. Auf der Grundlage der aufgedeckten Befunde, der Lektüren, der Übersetzungen und der ermittelten Fakten wird dann die Geschichte eines Textes und damit die Geschichte einer bestimmten religiösen oder kulturellen Gesellschaft, ja sogar die eines Zeitalters, rekonstruiert und erklärt.
Dabei geht es mir vor allem um die Frage, wie wir eine unbekannte, vergessene oder wenig erforschte Gesellschaft oder Epoche anhand ihrer literarischen und materiellen Kulturproduktionen wieder zum Leben erwecken und greifbar machen können.
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
Schon bei meinen ersten Begegnungen mit den Hamburgerinnen und Hamburgern lernte ich sie als aufgeschlossene und zuvorkommende Menschen kennen und fühlte mich sofort herzlich willkommen. Auch von den Kolleginnen und Kollegen an der Universität wurde ich sofort gut aufgenommen. Ich verspreche mir ein anspruchsvolles und vielfältiges Forschungs- und Lehrumfeld an der Universität Hamburg. Ich freue mich auf die Arbeit in der Fakultät für Geisteswissenschaften sowie auf das „Centre for the Study of Manuscript Cultures“, in dem ich viel Raum und Potenzial für entscheidende wissenschaftliche Kooperationen sehe.
Ich freue mich auch auf die kulturelle Vielfalt und das internationale Lebensumfeld der Stadt Hamburg, die Hamburger Museen, Theater, Oper und die Elbphilharmonie. Mit der Elbe und der Alster macht die Nähe zum Wasser Hamburg für mich zu etwas Besonderem! Ich selbst bin zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen und in diesem Zusammenhang erscheint mir Hamburg als eine lebendige und bunte Stadt, in der ich mich wohlfühlen kann und ich freue mich, sie als eine solche Stadt zu entdecken.
Das sind meine Pläne an der Uni Hamburg:
Mit meiner Forschung werde ich die Iranistik noch stärker als zuvor in der Fakultät für Geisteswissenschaften verankern. Dies gilt auch für eine lebendige Präsenz im „Centre for the Study of Manuscript Cultures“ sowie im Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“, wo ich mich mit meinen vielfältigen Forschungsschwerpunkten einbringen sowie mit einer Reihe von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vernetzen möchte, die sich mit iranischen und persophonen Handschriftenkulturen beschäftigen.
Mein Wissen möchte ich auch dazu nutzen, um den Studierenden ein vielfältigeres Angebot an Fächern aus der Geschichte, den Sprachen, den Religionen und der Kultur des Irans sowie dem iranisch geprägten Raum zu unterbreiten. In der Lehre möchte ich den Studierenden vor allem eine sehr gute wissenschaftlich-methodische Ausbildung für das Verstehen und Analysieren von Herausforderungen einer wissenschaftlichen Begegnung mit dem „Orient“ im Kontext ihrer zukünftigen Einsatzzusammenhänge vermitteln.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
Ich finde den fachlichen und persönlichen Austausch mit den Studierenden außerordentlich schön und vor allem die besondere Erfahrung der gemeinsamen Erkenntnisgewinnung in einer Lehrveranstaltung. Die Studierenden können in meinen Lehrveranstaltungen sowohl einen klassischen philologischen Anspruch erwarten, indem wir gemeinsam literarische Texte bis zum kleinsten Element untersuchen, als auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Texte funktionieren und wie sie unsere Kultur und gesellschaftliche Phänomene mitprägen.
Auch inhaltlich möchte ich eine systematisch-wissenschaftliche Denkweise in der Lehre ausarbeiten, indem eine Balance zwischen theoretischem und praktischem Wissen vermittelt wird. In meinem Fach geht es vor allem um Sprachen und Schriftzeugnisse, um Geschichte und Gesellschaft sowie um geistige und materielle Kultur. Die Iranistik im deutschsprachigen Raum ist ein ursprünglich vorwiegend philologisch ausgerichtetes Fach – und das hat seine Berechtigung. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir heute die methodischen Ansätze und Erkenntnisse anderer Disziplinen wie Religionswissenschaft, Sozialwissenschaft, Rechts- und Literaturwissenschaft, Ethnologie und Gender Studies mit aufnehmen und anwenden müssen. Besonders für diejenigen, die sich für moderne und zeitgenössische Orientforschung interessieren, wird dies ein wichtiges Thema sein.
In meinen Lehrveranstaltungen versuche ich, die Studierenden zum Beispiel dafür zu begeistern, wie kulturelle und geschichtliche Kontinuität und Wandel der alten Hochkulturen des Orients im Detail funktionieren und wie dieses Wissen aus dem anderen geographischen und zeitlichen Raum uns heute helfen würde, die grundlegenden Fragen unserer Zeit besser verstehen und erklären zu können. Dabei sollte man auch lernen, wie die Menschheit, die sich und die Welt wahrnimmt, Entscheidungen trifft, mit den Problemen und Herausforderungen umgeht und wie sie sich in einer bestimmten Situation verhält.
Meine Einladung an die Studierenden ist, dass wir gemeinsam zentrale historische, gesellschaftliche und sogar geistige Fragen zum Gegenstand unserer Auseinandersetzungen machen. Die besondere Herausforderung der Geisteswissenschaften besteht darin, vorherrschende Denkstrukturen aus neuen Sichtwinkeln zu betrachten und zu hinterfragen. Genau das ist, was ich in meiner Lehre anhand der orientalischen Literatur, Geschichte und Kultur vermitteln möchte.
Blick in die weite Welt: mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:
In dem vergangenen Jahre und durch meine aktuellen Projekte habe ich bereits viele Forschungskontakte aufgebaut – europaweit, in Großbritannien und Nordamerika, aber auch in Iran und Indien –, über die ich sowohl mit den Forscherinnen und Forschern als auch mit den zoroastrischen und jüdischen Gemeinden regelmäßig Austausch pflege. Dazu gehören neben den Forschungsprojekten auch internationale und interdisziplinäre Publikationen, Gastvorträge, Konferenzen und Summer Schools. Daher ist es mir ein besonderes Anliegen, weiterhin Kooperationen mit internationalen Kolleginnen und Kollegen zu initiieren und sie nach Hamburg einzuladen.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig:
Man kann sich zurecht fragen, was man sich vom Studium alter und ferner, wenn nicht gar ‚exotischer‘ Kulturen für das Leben im Europa des 21. Jahrhunderts erhoffen kann. Meine Forschung kann zum Beispiel dazu beitragen, die Kultur und Geschichte der Hochkulturen des Orients von der Antike bis zur Gegenwart, die nicht zuletzt unsere eigene moderne Kultur in Europa tiefgreifend geprägt haben, verständlicher und greifbarer zu machen. Viele grundsätzliche Fragen oder anstehende Konflikte in unserem heutigen Leben ähneln den Fragen und Konflikten von Menschen aus ‚anderen‘ Kulturkreisen. Um sich selbst zu verstehen, hilft es manchmal, sich im Spiegel anderer Menschen zu betrachten.
Darüber hinaus hoffe ich, dass meine Forschung auch zur Lösung oder zur Beschwichtigung heutiger gesellschaftlicher Konflikte beiträgt und uns hilft, eine verständnisvolle gemeinsame Sprache für den gegenseitigen Dialog zu finden. Der Iran und die iranisch geprägte Welt werden als wichtiger Teil des Nahen Ostens oft als ‚Wiege der Zivilisation‘ bezeichnet und waren von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Landwirtschaft, Kunst, Städten, Mathematik, Wissenschaft und westlichen religiösen Traditionen. In der Region entstanden unter anderem die ersten sesshaften Dörfer und protostädtischen Siedlungen, die ersten Schriftsprachen und Schriftkulturen, monumentale Architektur, Fernhandel und ein zentralisiertes Staatssystem. Nach der Ankunft des Islam im 7. Jahrhundert ist die Region trotz der vorherrschenden islamisch geprägten Kultur in Bezug auf Sprache, Religion und ethnische Identität sehr vielfältig geblieben.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt und der daraus resultierenden Ambiguität sollte uns im Idealfall helfen, das Verhältnis von uns und unserer Gesellschaft zum sich und zum ‚Anderen‘ besser zu gestalten.