Auch unser Wissen hat eine GeschichteErste Professur des neuen Studiengangs „Liberal Arts and Sciences“ besetzt„Willkommen an Bord“: Prof. Dr. Matthias Schemmel
3. Februar 2022, von Schemmel/Red.
Foto: Toshihito Schemmel
Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. Prof. Dr. Matthias Schemmel wird den Studiengang „Liberal Arts and Sciences“ mitaufbauen, der im Rahmen der „Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder“ eingerichtet wird.
Prof. Dr. Matthias Schemmel ist zum Wintersemester 2021/22 vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin gekommen und hat an der Fakultät für Geisteswissenschaften eine Professur für „Historische Epistemologie“ angetreten.
Mein Forschungsgebiet in drei Sätzen:
Ich untersuche Strukturveränderungen in Wissenssystemen, aus langfristiger und globaler Perspektive und insbesondere die exakten Wissenschaften betreffend. Ziel ist es, die erkenntnistheoretische Stellung wissenschaftlichen Wissens und seine Rolle in menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen. Dieses Ziel verfolge ich mithilfe empirischer, also quellenbasierter Forschung zu historischen Prozessen der Wissenstransformation, etwa zur Entstehung theoretischer Wissenschaft in der Antike, zum Wandel des europäischen Wissenssystems in der frühen Neuzeit, zum Wissenstransfer zwischen China und Europa und zu den Umbrüchen der Physik und ihrer Nachbardisziplinen im zwanzigsten Jahrhundert.
Und so erkläre ich meiner Familie, worum es da geht:
Auch Wissen hat eine Geschichte. Selbst Dinge, die uns selbstverständlich erscheinen, wie Zahlen oder die Vorstellung von Raum und Zeit, haben sich im Laufe der Zeiten verändert. Aber was bedeutet das für die Geltung dieses Wissens? Wenn es sich verändert, inwiefern ist es dann wahr? Was ist der Zusammenhang von Geltung und Genese?
Wenn man studiert, was Menschen früher geschrieben, gerechnet und gezeichnet haben, von den ersten Aufzeichnungen der Babylonier bis zu Albert Einsteins Notizen auf dem Weg zur Relativitätstheorie, dann kann man herausfinden, welches Verständnis sie selbst von den Problemen und den von ihnen gefundenen Lösungen hatten, wo sich dieses Verständnis von unserem heutigen unterscheidet, aber auch worin es ihm ähnelt. So lernt man etwas über das Denken anderer Zeiten und Kulturen, aber auch über unser heutiges Denken und über die gemeinsamen Grundlagen. Und daraus kann man Schlüsse ziehen über den Zusammenhang von wissenschaftlichem Wissen mit anderen Wissensbereichen, wie praktischem Wissen oder der Philosophie, und mit den sich im Laufe der Geschichte verändernden gesellschaftlichen Bedingungen.
Darum freue ich mich auf Hamburg – auf die Stadt und die Universität:
Als gebürtiger Hamburger und ehemaliger Student der Universität freue ich mich zurückzukehren. Die heutige Universität macht auf mich einen unglaublich lebendigen Eindruck. Hier geschieht im Moment sehr viel, vor allem sehe ich ein außergewöhnlich großes Engagement in inter- und transdisziplinärer Arbeit, insbesondere auch zwischen den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, das gefällt mir außerordentlich.
Diese Projekte würde ich gern ins Leben rufen oder verstärken, etwa in Bezug auf Transfer, Lehre o. Ä.:
Für mich wird es zunächst darum gehen, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen den neuen Studiengang „Liberal Arts and Sciences“ aufzubauen. Das ist eine spannende Aufgabe, zu deren erfolgreicher Erfüllung es genau der Interdisziplinarität bedarf, die ich hier sehe.
Der Studiengang wird im Rahmen der Exzellenzstrategie etabliert. Was verbirgt sich dahinter?
Eines der Teilziele der Exzellenzstrategie besteht ja in der Stärkung und dem Ausbau innovativer, forschungsorientierter und multiperspektivischer Lehre. Die Einführung des Studiengangs folgt diesem Gedanken: Ziel ist es, den Studierenden ein methodisch innovatives Studienprogramm anzubieten, das auf die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagiert und zugleich für historische Entwicklungen sensibilisiert.
Darum sollten Studierende unbedingt meine Veranstaltungen besuchen:
In meinen Lehrveranstaltungen möchte ich die Studierenden einladen, gemeinsam über Wissenschaft in ihren inhaltlichen wie auch in ihren kulturell-gesellschaftlichen Dimensionen kritisch nachzudenken. Und ich möchte ihnen natürlich die Freude daran vermitteln. Die Veranstaltungen sollen dazu beitragen, dass die Studierenden sich die notwendigen Grundlagen erarbeiten, um Probleme und Herausforderungen an den Schnittstellen von Wissenschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik auf fundierte Weise anzugehen.
In meiner Forschung zur langfristigen Geschichte des Raumbegriffs zum Beispiel, verwende ich Perspektiven und Ergebnisse verschiedener Disziplinen, wie etwa der Entwicklungspsychologie, der Ethnologie und der Wissenschaftsgeschichte, um mich der philosophischen Frage nach dem erkenntnistheoretischen Stellenwert unseres Raumwissens zu nähern. In meinen Lehrveranstaltungen möchte ich an eine solche interdisziplinäre Herangehensweise mit Bezug auf aktuelle Forschungsfragen heranführen.
Blick in die weite Welt: mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:
Hier nenne ich die Universität Ca’ Foscari in Venedig, die Chinesische Akademie der Wissenschaften in Beijing und die University of Notre Dame in den USA, an denen ich Kolleginnen und Kollegen habe, mit denen ich zusammenarbeite: zur Wissensgeschichte der Verflechtung von Natur und Kultur, zum Wissenstransfer zwischen Europa und China und zu digitalen Werkzeugen zur Arbeit mit Manuskripten.
Darum ist meine Forschung für die Gesellschaft wichtig – zur Lösung dieser Probleme könnte meine Forschung beitragen:
Bezüglich der globalen Krisen und Probleme der Gegenwart nimmt die moderne Wissenschaft eine ambivalente Stellung ein: Wissenschaft und Technik haben Bedingungen geschaffen, die diese Probleme zum Teil erst hervorgebracht haben oder sie verschärfen, aber sie sind auch Mittel, die wir zur Lösung dieser Probleme brauchen. Daher ist ein Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft und der Verflechtung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen notwendig, um die Zukunft zu gestalten. Zu einem solchen Verständnis hoffe ich mit meiner Forschung beizutragen.
Studiengang „Liberal Arts and Sciences“
Die Exzellenzuniversität Hamburg baut einen neuen achtsemestrigen Bachelor-Studiengang „Liberal Arts and Sciences“ nach niederländischem Vorbild auf. Das Alleinstellungsmerkmal des Hamburger Programms wird sein ausdifferenziertes interdisziplinäres Lehrangebot aus geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen sein. Eine weitere Besonderheit des Studiengangs wird in der Verzahnung von Wissenschaft und Praxis liegen.
Im Sommersemester 2022 finden zwei „Liberal Arts and Sciences“-Veranstaltungen statt. Das von Prof. Dr. Schemmel und Franziska Kutzick, wissenschaftliche Koordinatorin des Studiengangs, im Studium Generale angebotene Seminar „Liberal Arts and Sciences: Wissen und Gesellschaft“ (inkl. Übung) führt Studierende an interdisziplinäre Herangehensweisen sowie an fachübergreifendes Arbeiten heran. In der von Franziska Kutzick und Prof. Dr. Silke Segler-Meßner, akademische Leiterin des Studiengangs, organisierten öffentlichen Ringvorlesung „Liberal Arts and Sciences: Interdisziplinäre Begegnungen“ beleuchten jeweils zwei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen gemeinsamen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven.