Neue Ringvorlesungen starten10 Jahre Arabischer Frühling – was ist geblieben?
7. April 2021, von Christina Krätzig
Foto: Karimphoto
Das Sommersemester 2021 hat begonnen und mit ihm knapp 20 Ringvorlesungen an der Universität Hamburg. Die Themen reichen von der Liebe über die Geschichte der Astronomie bis zu Infektionskrankheiten. Eckart Woertz, Professor am Arbeitsbereich Globalgeschichte, stellt die Ringvorlesung zum Arabischen Frühling vor.
Herr Woertz, Sie haben die Ringvorlesung „Arabischer Frühling 10 Jahre danach“ mit konzipiert. Richtet sie sich eher an ein Fachpublikum, oder wollen Sie eine breitere Öffentlichkeit ansprechen?
Das Thema ist für alle wichtig. In den damals beteiligten Ländern sind die sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Ursachen für die Aufstände ebenso wenig verschwunden wie die Unzufriedenheit der Menschen. Sie prägen die Region. Diese Hintergründe zu kennen kann vielen Menschen helfen: Menschenrechtlern wie auch Entwicklungshelferinnen oder Fachleuten, die sich mit Migration, Sicherheit oder Energieversorgung beschäftigen.
Die Region ist ein direkter Nachbar Europas. Über die letzten 10 Jahre war sie Schauplatz der blutigsten Auseinandersetzungen weltweit: Nirgendwo starben mehr Menschen durch Bürgerkriege, Aufstände und den Machtmissbrauch der Regierungen. Die Menschen fliehen, und diese Migrationsbewegungen wirken sich auch auf Deutschland und Europa aus.
Es handelt sich um ein riesiges Gebiet und viele verschiedene Staaten. Ist trotzdem eine Bilanz des Arabischen Frühlings möglich?
Grundsätzlich kann man sagen, dass sich die Hoffnungen der Menschen auf mehr Demokratie nicht erfüllt haben. Tunesien ist das einzige halbwegs positive Beispiel. Es gab einen Regierungswechsel, und jetzt auch mehr Freiheit und Dialog, aber die sozio-ökonomische Misere hält an. In anderen Ländern wie beispielsweise Ägypten kam es nach anfänglich erfolgreichen Protesten zu einer Restauration der alten Machtverhältnisse. Die autokratischen Herrscher und auch das Militär haben nun vielerorts mehr Macht als je zuvor. Bemerkenswert dabei ist, dass nicht nur die Protestierenden, sondern auch die Regierenden der Region voneinander gelernt haben. Die arabische Welt ist stark vernetzt, und das haben sich auch die Herrscher zunutze gemacht und sich beispielsweise darüber ausgetauscht, mit welcher Software sie Bürgerinnen und Bürger besser überwachen können, durch die polizeiliche Überwachung von sozialen Medien, das Hacken von Handys und die Auswertung von Bewegungsdaten. In einigen Ländern, die 2011 nicht beteiligt waren, kam es übrigens erst jüngst zu Protesten, beispielsweise im Irak, in Algerien, im Libanon oder Sudan. Forschende sprechen hier bereits von einem Arabischen Frühling 2.0.
Welches Interesse haben Sie persönlich an der Region?
Ich nehme seit meinem Grundstudium intensiv Anteil an den Geschehnissen dort. Ich habe in Damaskus studiert, über Ägypten promoviert und später sieben Jahre in Dubai gelebt. Heute interessiere ich mich als Forscher vor allem an dem Beziehungsgeflecht zwischen dem südlichen Mittelmeerraum und Europa. Dabei kann es um materielle Fragen gehen, beispielsweise um den Ölexport und den Nahrungsmittelimport. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der derzeitigen Infragestellung von Wertschöpfungsketten, die sich auf Fernost konzentrieren, erwarte ich auch eine Aufwertung als Standort für die industrielle Fertigung. Anderseits beobachte und analysiere ich die politische Haltung der Europäischen Union. Sie vertritt keinen einheitlichen außenpolitischen Standpunkt, das wird auch aktuell wieder sehr deutlich. Während Frankreich in Libyen den Warlord Khalifa Haftar unterstützt, steht Italien auf der Seite der Regierung in Tripolis und Deutschland versucht eine Mischung aus Diplomatie und Wegducken. Da gibt es in der EU starke Interessenkonflikte, die uns daran hindern, nach außen geschlossen aufzutreten. Meiner Meinung nach beeinträchtigt dies die weltweite Bedeutung Europas, und ich hoffe, dass sich das irgendwann ändern wird.
Ringvorlesungen an der Exzellenzuniversität Hamburg
Die erste Vorlesung zum Arabischen Frühling findet am 15.4. von 18.15 bis 19.45 Uhr statt, zum Thema „Hintergründe, Charakter und Auswirkungen der Aufstände von 2011 – ein verlorenes Jahrzehnt?“ Es folgen zehn weitere Veranstaltungen. Organisiert wird die Reihe von Prof. Dr. Eckart Woertz von der Universität Hamburg gemeinsam mit Friederike Wirtz von der Heinrich-Böll-Stiftung, Dr. André Bank vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) und Dr. Achim Rohde von der Academy in Exile an der Freien Universität Berlin.
In den Ringvorlesungen der Exzellenzuniversität Hamburg präsentieren renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedes Semester aktuelle Einblicke in Wissenschaft und Forschung. Sie behandeln Themen aus dem gesamten Fächerspektrum der Universität. Alle Bürgerinnen und Bürger können teilnehmen, die Teilnahme ist kostenlos. Im Sommersemester 2021 werden die Vorlesungen digital angeboten.
Eine Übersicht über die Ringvorlesungen finden Sie hier.