Lateinamerika-Expertin bereichert Universität HamburgPolitik, Familien und soziale Ungleichheit
19. Mai 2020, von Newsroom-Redaktion

Foto: UHH/Ohme
Dr. Merike Blofield ist neue Professorin für Gesellschaft und Politik Lateinamerikas an der Universität Hamburg und Direktorin des GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien. Sie erforscht, wie die lateinamerikanische Politik mit sozialer Ungleichheit und den Belangen von Frauen und Familien umgeht.
Aus dem tropischen Klima nach Deutschlands Norden: Die Politikwissenschaftlerin und Lateinamerika-Expertin Prof. Dr. Merike Blofield ist von der University of Miami an die Universität Hamburg gewechselt. Zugleich ist sie neue Direktorin des Instituts für Lateinamerika-Studien am Leibnitz-Institut für Globale und Regionale Studien (englisch abgekürzt: GIGA).
Bevor sie nach Hamburg kam, arbeitete Blofield 17 Jahre lang als Professorin in Miami, Michigan und São Paulo. Hier erklärt sie, warum sie die lateinamerikanische Politik erforscht, was sie selber auf diesem Kontinent untersucht hat und weshalb sie nach Hamburg gekommen ist.
Mit welchen Themen befassen Sie sich als Wissenschaftlerin?
Mein Schwerpunkt sind die Prozesse und Inhalte der lateinamerikanischen Politik. Dabei interessiere ich mich vor allem dafür, wie diese mit der großen sozialen Ungleichheit auf dem Kontinent umgeht. Und ich untersuche, wie sie sich um die Belange von Männern und Frauen kümmert beziehungsweise welche Genderpolitik in Lateinamerika stattfindet. In der Vergangenheit habe ich mich in diesem Bereich besonders intensiv mit armen Frauen und Familien beschäftigt – insbesondere aus Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien. Man kann also sagen: Ich erforsche die Mechanismen von Benachteiligung.
Wieso interessieren Sie sich besonders für diese Themen?
Ich bin in Finnland in einem internationalen Haushalt aufgewachsen; meine Mutter ist Kanadierin und ihre Familie ist aus Estland geflüchtet. Schon als Jugendliche habe ich mich daher sehr für globale Strukturen und insbesondere auch für soziale Gerechtigkeit interessiert. Als Studentin der Politikwissenschaft habe ich deshalb bei diesen Themen meine Schwerpunkte gesetzt. Und weil es in Lateinamerika so große gesellschaftliche Ungleichheiten gibt und ich an der Universität bei sehr engagierten lateinamerikanischen Professorinnen und Professoren lernte, war dann mein Interesse für diesen Erdteil geweckt.

Nach meinem Abschluss 1996 war ich sechs Monate lang für eine Menschenrechtsorganisation in Chile tätig. Dort habe ich mit sozial schwachen Frauen gearbeitet. Ich habe damals viel über ihre Lebensumstände gelernt und wie diese von politischen Entscheidungen bestimmt werden. Nach dieser Zeit wollte ich mich dann auch wissenschaftlich mit den Strukturen befassen, die diese Ungleichheiten hervorbringen, und damit, wie politische Reformen möglich werden können.
Welche Forschungsprojekte sind aus diesem Vorhaben erwachsen?
Im Anschluss an die Freiwilligenarbeit in Chile habe ich an der University of North Carolina promoviert und mich mit dem politischen Umgang mit dem Thema Abtreibung in Lateinamerika befasst. Abtreibungen sind fast überall in Lateinamerika verboten. Da die Rate von Abtreibungen dennoch hoch ist, resultiert daraus eine soziale Krise und eine Krise der öffentlichen Gesundheit: Frauen treiben in Lateinamerika oft unter gefährlichen Umständen in der Illegalität ab.
Für meine Studie habe ich vor Ort Politiker, Aktivistinnen und Aktivisten, Amtsinhaber der katholischen Kirche und viele andere befragt – mehr als ein Jahr lang. Eine Erkenntnis meiner Forschung war: Ob Abtreibung legalisiert wird, hängt auch von der Einkommensverteilung ab. In katholischen Ländern mit weniger Ungleichheit wie Spanien, Italien oder Portugal solidarisieren sich Frauen – und zum Teil auch Männer – über Einkommensgrenzen hinweg. In lateinamerikanischen Ländern dagegen leben Frauen mit hohem Einkommen in einer ganz anderen Wirklichkeit mit großer sozialer Distanz zu den Ärmeren. Für sie sind Abtreibungen zwar illegal, aber dennoch möglich und vergleichsweise sicher durchführbar, etwa bei speziellen Ärzten oder im Ausland. Ein offener politischer Diskurs findet daher nicht statt und der Einfluss der politisch mächtigen katholischen Kirche bleibt hoch.
Welche Themen haben Sie als Professorin erforscht?
In meiner Zeit als Professorin ab 2003 habe ich mich unter anderem mit Fragen der Umverteilung beschäftigt, mit der Gleichstellung von Mann und Frau in der Region und mit der sozialen und politischen Situation von Hausangestellten sowie mit lateinamerikanischer Familienpolitik.
In meinem aktuellen Projekt vergleiche ich Lateinamerika mit Europa, und zwar bei der Frage: Was ist die Rolle der Väter in sich ändernden Familienmodellen und was sind die politischen Antworten? Zum Beispiel untersuche ich, wie getrennt lebende Väter alleinerziehende Mütter und ihre Kinder unterstützen und welcher politische Rahmen dabei gesetzt wird. In Lateinamerika ist das nämlich ein großes soziales Problem: Hier wachsen fast 30% aller Kinder bei nur einem Elternteil auf – in der Regel bei der Mutter, häufig ohne Unterstützung des Kindsvaters.
Warum haben Sie sich für Hamburg als neuen Arbeitsort entschieden?
Zum einen habe ich nach einer neuen beruflichen Herausforderung gesucht. Zum anderen glaube ich, dass ich gerade hier in Deutschland etwas mit meiner Forschung bewegen kann. Die deutsche Politik ist ja in der Welt dafür bekannt, dass sie die Erkenntnisse der Wissenschaft in besonderem Maße bei ihren Entscheidungen berücksichtigt. Und Deutschland spielt als Handelspartner und Geberland auch eine durchaus bedeutende Rolle für Lateinamerika.
Hamburg wiederum ist mit dem GIGA und einigen universitären Lehrstühlen ein bedeutender Standort der Lateinamerika-Forschung. Ich bin mir sicher, dass ich hier viele kreative und interessante Forschende kennenlernen werde – und mit ihnen fruchtbare, fachübergreifende Studien zu Lateinamerika durchführen kann.
Außerdem kenne ich Hamburg schon seit längerem und finde, es ist eine überaus schöne und lebenswerte Stadt.