NachrufZum Tod der Ehrensenatorin Prof. Dr. Dr. h. c. Miriam Gillis-Carlebach
3. Februar 2020, von Prof. Dr. Barbara Vogel
Foto: Gesche-M. Cordes
Am 28. Januar verstarb kurz vor Vollendung des 98. Lebensjahrs in Petach Tikva, Israel, Miriam Gillis-Carlebach. Sie war der Universität Hamburg seit den frühen 1990er-Jahren verbunden. Als Direktorin des Joseph Carlebach Instituts an der Bar Ilan Universität in Ramat Gan initiierte sie eine bis heute bestehende wissenschaftliche Kooperation mit dem Josef-Carlebach-Arbeitskreis der Universität, die sich der Erforschung jüdischer Geschichte, Kultur und Religion in Deutschland widmet.
Ein Nachruf von Prof. Dr. Barbara Vogel, langjährige Sprecherin des Joseph-Carlebach-Arbeitskreises der Universität Hamburg
Einen stets präsenten Bezugspunkt dieser Kooperation bildete die Shoa. Für diese Thematik steht Miriam Gillis-Carlebach als Wissenschaftlerin wie auch als Person ein. In ihrer Biografie spiegelt sich das Elend der deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Name Carlebach repräsentiert in Hamburg die Auslöschung jüdischer Menschen und jüdischer Kultur.
Mahnerin gegen Geschichtsvergessenheit für Stadt und Universität
Die verschiedenen Aufenthalte Miriam Gillis-Carlebachs in Hamburg seit den 1980er-Jahren dienten der wissenschaftlichen Recherche. Die geplante Herausgabe der Schriften ihres Vaters, Dr. Josef Carlebach, verband sie mit der Suche nach Zeugnissen seines Wirkens in Hamburg als Direktor der Talmud-Tora-Realschule (1921–25) und anschließend als Rabbiner in Altona und in Hamburg bis zu seiner Deportation nach Riga im Dezember 1941. Dieser Forschungsauftrag traf sich mit dem Bemühen in der Stadt, über die bisher unbewältigte Vergangenheit Rechenschaft abzulegen.
Als Miriam Gillis-Carlebach für ihre Forschungen Gesprächspartner in Hamburg suchte, begannen in der Stadt, wie auch in der Universität nach langem Stillschweigen Forschungen darüber, was konkret der jüdischen Bevölkerung Hamburgs im Dritten Reich angetan worden war. So wurde nun wahrgenommen, dass viele seit den späten 1950er-Jahren errichteten Universitätsgebäude im ehemaligen jüdischen Stadtviertel am Grindel angesiedelt sind. Im März 1995 ernannte die Universität Miriam Gillis-Carlebach zur Ehrensenatorin. Damit sollte sie als Mahnerin und Partnerin bei der historischen Aufgabe, sich die Geschichte auch mit ihren unfassbaren Verbrechen zu vergegenwärtigen, gewürdigt werden und bewahrt bleiben.
Kindheit im Schatten des Nationalsozialismus
Miriam Carlebach war am 1. Februar 1922 als dritte Tochter in eine auf neun Kinder wachsende religiöse jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater Josef Carlebach war ein hoch anerkannter Vertreter der Neo-Orthodoxie, der sich zugleich mit Enthusiasmus zur europäischen Bildung und Kultur bekannte. Das Carlebachsche Haus unter der fürsorgenden Leitung der Mutter stand vielen Gästen offen. Lotte Carlebach (geb. Preuss) hat Miriam Gillis-Carlebach in dem bewegenden Buch mit dem Titel „Jedes Kind ist mein Einziges“ ein Denkmal gesetzt.
Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft gerade elf Jahre alt, erlebte Miriam mit wacher Aufmerksamkeit die wachsende antisemitische Hetze und die immer enger werdenden Handlungsräume der jüdischen Bevölkerung. Ihr gelang, sechzehnjährig, die Ausreise aus Hamburg nach Palästina. Ihre Eltern sah sie nie wieder. Dass beide gemeinsam mit den drei jüngsten Töchtern und dem Sohn Peter Schlomo deportiert wurden, dass nur ihr Bruder überlebte, während der Rest ihrer Familie im März 1942 bei Riga ermordet wurde – all das erfuhr sie erst nach Kriegsende. In Palästina absolvierte sie eine landwirtschaftliche Schule, lebte und arbeitete anschließend in einem Kibbuz und gründete mit Mosche Gillis eine Familie mit vier Kindern.
Enge Kooperationen und wissenschaftlicher Austausch mit der Universität
Im Alter von 46 Jahren legte Miriam Gillis-Carlebach das Abitur ab und studierte anschließend Erziehungswissenschaften an der Bar Ilan Universität in Ramat Gan. Sie gründete ein Legasthenie-Institut und engagierte sich im Hebräisch-Unterricht für eingewanderte Erwachsene. Aber gleichzeitig wuchs ihr Wunsch, ihrem ermordeten Vater seinen Ort in der Geschichte zurückzugeben und sein deutsch-jüdisches Erbe zu bewahren. Der Ertrag dieser Forschung waren zahlreiche quellenfundierte Veröffentlichungen über Josef Carlebachs Leben, sein Wirken als Direktor der Talmud-Tora-Schule sowie die Herausgabe seiner Aufsätze, Reden, Predigten und Briefe in vier Bänden.
Der Entschluss, für diese Forschungen auch Hamburger Boden wieder zu betreten, fiel ihr schwer. Ein erster Hamburg-Besuch fand 1983 statt. Aber ihm folgten weitere, die zu der zunächst zögerlichen Aufnahme von Gesprächen in Hamburg und dann zu zahlreichen Begegnungen führten, bei denen sie gute, aber auch bittere Erfahrungen sammelte. Sie endeten mit einem großen Erfolg: die durch den hamburgischen Senat geförderte Gründung des Joseph Carlebach Instituts an der Bar Ilan Universität und der Kooperationsvertrag des Instituts mit der Universität Hamburg Anfang der 1990er-Jahre.
Die seitdem alternierend in Israel und in Hamburg stattfindenden Carlebach-Konferenzen, dokumentiert in Tagungsbänden, legen Zeugnis ab von dem wachsenden Vertrauen zueinander. Miriam Gillis-Carlebach war die Meisterin dieser Tagungen, indem sie mit charmanter Bestimmtheit, Scharfsinn und versöhnlichem Humor Entscheidungen herbeizuführen und Meinungsverschiedenheiten zu versöhnen wusste. Die Konferenzthemen umfassen historische, theologische, erziehungs- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen zur jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Der damalige Präsident der Universität, Dr. Jürgen Lüthje, würdigte die Kooperation im Jahre 2003 durch die Stiftung des Josef-Carlebach-Preises, der unausgesprochen zugleich die Direktorin des Joseph Carlebach Instituts ehrt. Der Preis soll wissenschaftliche Forschung in Hamburg zur jüdischen Geschichte, Religion und Kultur fördern.
Die Institutsleitung an der Bar Ilan Universität wurde – begleitet von Miriam Gillis-Carlebach – vor einigen Jahren in jüngere Hände gelegt. Auch für die Kooperation zwischen der Universität Hamburg und dem Joseph Carlebach Institut stehen dadurch die Weichen auf Kontinuität und Erneuerung.
Zahlreiche Auszeichnungen
Auch jenseits der Universität Hamburg fand das Wirken Miriam Gillis-Carlebachs hohe Anerkennung und Auszeichnungen: Der hamburgische Senat verlieh ihr den Titel Professor, die Universität Oldenburg die Ehrendoktorwürde (2009), 2008 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und 2017 die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Stadt Hamburg.
Der Präsident der Universität, Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Lenzen sagte: „Mit dem Tod von Miriam Gillis-Carlebach hat die Universität nicht nur ihre Ehrensenatorin verloren, sondern eine herausragende Persönlichkeit. Ich erinnere mich gerne an die Begegnungen mit ihr im Rahmen der biennalen Verleihung des Joseph Carlebach-Preises und an ihre von feinsinnigem Humor, intellektueller Weite und Authentizität geprägten Gesprächsbeiträge. Wir werden ihr Andenken und ihr Anliegen pflegen.“