Interview mit dem Evolutionsbiologen Prof. Dr. Matthias GlaubrechtStehen wir vor dem Ende der Evolution?
5. November 2020, von Christina Krätzig
Foto: Sebastian Engels
Mit beispielloser Geschwindigkeit sterben weltweit Tier- und Pflanzenarten aus. Das Ausmaß des Artensterbens gefährdet auch das Überleben der Menschheit, sagt Prof. Dr. Matthias Glaubrecht von der Universität Hamburg. In seinem Buch „Das Ende der Evolution" analysiert der Evolutionsbiologe Ursachen und mögliche Folgen des Massenaussterbens.
Herr Glaubrecht, wo findet das Artensterben statt: In weiter Ferne oder auch hier bei uns?
Die Biodiversitätskrise, also die Krise der biologischen Vielfalt, hat heute alle Tierarten, alle Lebensräume und alle Kontinente erfasst. Sie zeichnet sich seit etwa dreißig Jahren immer deutlicher ab; in dieser Zeit haben wir in Deutschland beispielsweise rund drei Viertel der Biomasse von Insekten verloren. Insekten sind Nahrung für viele Vogelarten, bei denen wir einen ebenfalls dramatischen Schwund von etwa einem Drittel bis zur Hälfte der Bestände verzeichnen – in Deutschland, Europa und jüngst auch in Nordamerika. Bei Ackerland- und Wiesenvögeln wie etwa Rebhuhn und Kiebitz sind die Populationen sogar um 90 Prozent eingebrochen. Es geht also längst nicht mehr nur um Tiger, Jaguare oder Nashörner in weiter Ferne.
In deren Schutz investieren internationale Organisationen viel Geld. Geben Ihnen solche Initiativen Hoffnung?
Im Gegenteil. Wer die Aufmerksamkeit allein auf einige „Flaggschiffarten“ richtet, täuscht über das wahre Ausmaß der Artenkrise hinweg. Tiger und Pandabären werden nicht aussterben, weil wir sie mit aufwändigen Rettungsaktionen oder in Zoos erhalten. In ihren natürlichen Lebensräumen spielen sie jedoch keine Rolle mehr, die Ökosysteme verkümmern. Das aber hat Folgen – nur überblicken wir diese Folgen bisher nicht.
Sie sind Zoologe, Professor für die Biodiversität der Tiere. Trotzdem kurz die Frage: Wie steht es um die Pflanzenwelt?
Auch wenn es mit schätzungsweise acht Millionen Arten weitaus mehr Tier- als Pflanzenarten gibt, steht es um Tiere und Pflanzen gleichermaßen dramatisch. Auch die Populationen vieler Pflanzen verschwinden direkt vor unserer Haustür – denken Sie nur an die vielen Ackerwildkräuter, die in unseren überdüngten und ausgeräumten Agrarlandschaften keinen Platz mehr finden.
Ihr Buch heißt „Das Ende der Evolution“. Glauben Sie tatsächlich, dass wir vor dem Ende jeglicher Weiterentwicklung von Leben auf der Erde stehen?
Der Titel ist zugegebenermaßen etwas pointiert. So lange noch zwei fortpflanzungsfähige Lebewesen auf dieser Erde existieren, solange findet Evolution statt. Doch Tatsache ist auch: Für viele Arten ist das Ende gekommen. Es hat Millionen Jahre gedauert, bis sich Spezies wie die Wandertaube oder der Tasmanischen Beutelwolf, Lappenhopf oder Galapagos-Fliegenschnäpper entwickelt haben. Nun sind sie verschwunden, und zwar unwiederbringlich. Selbst wenn die Menschheit ihren Kurs ändern würde: Diese Arten bekommen wir nie mehr zurück. Das Massensterben kappt ungeheuer viele solcher biologischen Entwicklungslinien, die zusammen mit dem Menschen entstanden sind und deren Evolution er jetzt beendet.
Was sind die Ursachen?
Tier- und Pflanzenarten sind vor allem gefährdet, weil wir Menschen ihre Lebensräume zerstören. Wir nutzen das Land für uns selbst, beispielsweise um Nahrungsmittel oder Energiepflanzen anzubauen; für unsere Städte, Industrieflächen und Verkehrswege. Und es ist eine unangenehme Wahrheit: Wir werden schon bald noch mehr Menschen auf diesem Planeten sein. Heute leben beinahe acht Milliarden Menschen auf der Erde; demnächst werden es neun und dann elf Milliarden werden. Schon jetzt zerstören wir für unsere Ernährung die wichtigsten Schatzkammern der Artenvielfalt, brandschatzen und roden beispielsweise die tropischen Regenwälder, vom Amazons bis nach Neuguinea. Wir begreifen kaum, was das für unseren Planeten bedeutet. Um weitere drei Milliarden Menschen zu ernähren, werden wir noch mehr Natur opfern.
Ist es nicht tatsächlich wichtiger, Menschen zu ernähren?
Ohne intakte Natur können wir nicht überleben
So zu denken, ist kurzsichtig. Wir können ohne intakte Natur nicht überleben und diese nicht ernähren. Auch vom Menschen genutzte Flächen können ohne Insekten oder ohne die Tätigkeiten der Mikroorganismen im Boden keine Erträge bringen. Den wenigsten Menschen ist bewusst, in welchem Ausmaß wir von der Natur abhängig sind – vom Brot bis zur Banane, vom Kaffee am Morgen bis zum Wein oder Bier am Abend.
Das ist ein angsteinflößendes Szenario.
Ja, in der Tat. Dazu kommt, dass die Menschheit nicht friedlich verschwinden wird. Ich fürchte, dass es Verteilungskämpfe gegen wird, große Migrationsbewegungen, Chaos, Kriege und Krankheiten.
Gibt es Hoffnung?
Unsere Umwelt auszubeuten und anschließend weiter zu ziehen, ist tief in der Natur des Menschen verankert. Wir müssen dieses Verhalten mit der Kraft unseres Verstandes in den nächsten zehn, zwanzig oder höchsten dreißig Jahren überwinden. Wir brauchen ein grundlegend anderes Verhältnis zur Natur, und wir müssen viel, viel mehr Land unter Schutz stellen, möglicherweise 50 Prozent der Erde. Ich glaube, dass das möglich ist – aber wetten würde ich nicht darauf.
Prof. Dr. Matthias Glaubrecht ist Professor für die Biodiversität der Tiere und Direktor des Centrums für Naturkunde an der Universität Hamburg. Das CeNak ist eines der großen Zentren für Biodiversitäts- und Evolutions-Forschung in Deutschland. Gemeinsam mit dem Zoologische Forschungsmuseum Alexander König in Bonn wird es künftig ein Leibniz-Institut für die Analyse des Biodiversitätswandels bilden.