Neue Ausstellung in der „Stabi"„Wissen in Kisten“ zeigt Nachlässe von Forschenden
9. Oktober 2019, von Christina Krätzig
Foto: UHH/Krätzig
Manuskripte, Tagebücher oder Zeichnungen vermitteln intime Einblicke in das Leben und die Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Bis zum 5. Januar 2020 gewährt die Staats- und Universitätsbibliothek Einblick in die Nachlässe von elf Forschenden aus Hamburg, von denen viele an der Universität Hamburg tätig waren.
Im Keller der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky ruht in vielen hundert grünen Kisten das, was von einem Forscherleben übrig bleibt: Briefe und Manuskripte, Notizen, Skizzen und Fotos. Rund 400 Nachlässe befinden sich im Besitz der „Stabi“, darunter die des im 16. Jahrhundert geborenen Hamburger Naturphilosophen Joachim Jungius, des Universitätsmitgründers Werner von Melle oder des ehemaligen Universitätsrektors Helmut Thielicke. In der Ausstellung „Wissen in Kisten“ zeigt die Stabi eine Auswahl. Mit Blick auf das hundertjährige Universitätsjubiläum liegt der Fokus auf Nachlässen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an der Universität Hamburg tätig waren.
„Für Historiker sind Nachlässe einzigartige Quellen, weil sie Blickwinkel öffnen, welche die offiziellen Quellen nicht bieten. Sie können zeigen, wie sich persönliche oder wissenschaftliche Standpunkte entwickelt haben oder in welche Netzwerke eine Person eingebunden war“, erklärt Professor Dr. Dr. Rainer Hering, der die Festrede zur Ausstellungseröffnung hält. Der Historiker hat sich insbesondere mit dem beinahe hundert Kisten umfassenden Nachlass des evangelischen Theologen Helmut Thielicke (1908-1986) beschäftigt. In der Nachkriegszeit war der Pastor, Autor und Universitätsprofessor äußerst populär. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nannte ihn den „meistbesprochenen evangelischen Theologen der Gegenwart“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschrieb seine „rasche, formulierungsfreudige Intelligenz, verbunden mit einer Neigung zu Auftritt und Schau“. Seine Predigten im Hamburger Michel waren stets überfüllt, er sprach im Bundestag und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Doch Thielicke war auch umstritten. In den 1960er Jahren sprach er sich gegen die Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit aus. Schon zuvor war er in die Schlagzeilen geraten, als er einen des Antisemitismus verdächtigten Richter öffentlich verteidigt hatte. Angeblich kannte er den Juristen nicht persönlich. „Doch in seinem Nachlass fand ich einen Brief an den Richter, die beiden standen also in Kontakt“, erklärt Prof. Hering. „Das wirft ein neues Licht auf den Theologen, der sich in der Öffentlichkeit als Opfer der NS-Zeit stilisierte.“ Und nach Herings Recherchen damit übertrieb: Thielicke war 1940 nicht gezielt aus dem Amt entfernt worden. Stattdessen war seine von vornherein befristete Stelle ausgelaufen.
Helmut Thielicke ist nur einer von mehreren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, dessen Lebenswege Rainer Hering erforscht hat. Dabei hat er immer wieder festgestellt: „Gerade in der NS-Zeit greifen einfache Schemata und Einteilungen in gut und böse, in Opfer und Täter zu kurz. Die Auswertung ihrer Nachlässen kann dazu beitragen, Stereotype und öffentliche Inszenierungen zu durchbrechen.“
Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky
Die kurz „Stabi“ genannte Institution ist Hamburgs größte wissenschaftliche Allgemeinbibliothek und gleichzeitig die zentrale Bibliothek der Universität Hamburg und der anderen Hochschulen der Stadt. Sie dient der Literatur- und Informationsversorgung von Wissenschaft, Kultur, Presse, Wirtschaft und Verwaltung. Für die Freie und Hansestadt Hamburg versieht sie die Aufgaben einer Landes- und Archivbibliothek.