„Alte Gewissheiten werden zunehmend hinterfragt“Interview zur Bildungskonferenz ECER
2. September 2019, von Anna Priebe
Foto: UHH
Um „Bildung in Zeiten der Unsicherheit“ geht es bei der „European Conference on Educational Research“ (ECER), die vom 3. bis 6. September 2019 mit rund 3000 Teilnehmenden an der Universität Hamburg stattfindet. Was es mit der bedeutendsten europäischen Konferenz für erziehungswissenschaftliche Forschung und dem Konferenzthema auf sich hat, erklärt Drorit Lengyel, Professorin für Erziehungswissenschaft in multilingualen Kontexten und Vorsitzende des lokalen Organisationskomitees, im Interview.
Worum geht es beim Thema „Bildung in Zeiten der Unsicherheit“?
Kurz zusammengefasst: Alte Gewissheiten werden zunehmend hinterfragt, an ihre Stelle tritt Ungewissheit. Mit dem Rahmenthema wollen wir an Beobachtungen anknüpfen, nach denen die globalisierte, mobile und beschleunigte Welt zunehmend als risikoreich und wenig beständig wahrgenommen wird. Nehmen wir für eine europäische Konferenz wie die ECER nur mal das Beispiel Brexit: Das europäische Modell, das nach dem 2. Weltkrieg für geografische, politische und wirtschaftliche Sicherheit und Stabilität stand, ist selbst zu einem Faktor der Unsicherheit geworden.
Diese ‚Gemengelage‘ betrifft natürlich auch die Gestaltung individueller Lebensentwürfe und berührt im Kern die Erziehungs- und Bildungssysteme weltweit. Denn sie sind dafür verantwortlich, dass Kinder und Jugendliche die Fähigkeiten erwerben, um in diesen Zeiten selbstbestimmt und verantwortlich handeln zu können. Auf der Konferenz wird in mehr als 30 thematischen Sektionen erziehungswissenschaftliche Forschung hierzu vorgestellt und diskutiert.
Welche Forschung findet dazu in der Erziehungswissenschaft in Hamburg statt?
Hier spielt die Profilinitiative „Literacy and Diversity Settings“ eine große Rolle, in der es um die Zusammenhänge zwischen sprachlicher Diversität, Grundbildung und gesellschaftlicher Teilhabe geht. Wir fokussieren nicht nur auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit, sondern zum Beispiel auf sprachliche Diversität, die durch soziale Ungleichheit hervorgerufen wird. Die übergeordnete Frage ist, wie man Bildung so gestalten kann, dass mit dieser sprachlichen Vielfalt adäquat umgegangen wird und Individuen bestmöglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Ungewissheit als Dimension pädagogischen Handelns spielt auch in der Unterrichtsforschung eine wichtige Rolle. Pädagogisches Handeln ist ja an sich schon mit Ungewissheit verbunden, denn man weiß natürlich nie, wie das, was man als Lehrkraft intendiert, bei den Schülerinnen und Schülern ankommt. Hier geht es darum, welche Bedeutung Ungewissheit für das Lehren und Lernen hat und auch darum, wie die universitäre Lehrerbildung angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden muss.
Unsicherheit bezieht sich auch auf das Bildungssystem selbst. Was sind da die Herausforderungen?
Das eine sind die Bildungssysteme. Wie sie sich künftig entwickeln müssen, um Kinder und Jugendliche handlungsfähig zu machen, ist kaum vorhersagbar. Das andere sind die in den Systemen stattfindenden Erziehungs- und Bildungsprozesse. Eine international bedeutsame Herausforderung ist zum Beispiel: Wie sieht eine geeignete Beschulung für zugewanderte Kinder und Jugendliche aus? Wie geht man mit Kindern um, die zum Teil mehrjährige Fluchterfahrungen und diskontinuierliche Bildungskarrieren haben? Auch Fragen nach der Umsetzung der Digitalisierung bergen Unsicherheiten.
Was erwarten Sie von der Tagung? Was sind Ihre Highlights?
Besonders freue ich mich auf interessante Keynote-Vorträge, in denen ganz unterschiedliche Aspekte des Rahmenthemas diskutiert werden. In einer Keynote steht Nachhaltigkeit im Zentrum, in einer anderen Migration. Universitätspräsident Lenzen wird sich der Frage der Universität der Zukunft widmen. Das ist sehr spannend vor dem Hintergrund, dass das deutsche, aber auch das kontinentaleuropäische Hochschulsystem schon seit längerem einem enormen Transformationsprozess unterworfen ist.
Ich denke, grundsätzlich liegt der besondere Charme dieser internationalen Konferenzen darin, dass die große Mehrheit der Teilnehmenden aus dem Ausland kommt und dadurch unterschiedliche Probleme diskutiert und verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden. Das befördert den wissenschaftlichen Fortschritt. Beim Keynote-Panel, bei dem alle Hauptvortragenden gemeinsam diskutieren, werden wir daher die Frage stellen, welche regionalen Erkenntnisse und Erfahrungen sich tatsächlich internationalisieren lassen und welche wir weiter kontextgebunden denken müssen.
Die Tagung ist explizit nachhaltig. Was bedeutet das?
Die ECER steht unter dem Motto „Going green“. Das heißt, wir setzen bei der Konferenzorganisation auf ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit. Dazu haben wir sieben Handlungsfelder identifiziert und entsprechende Maßnahmen umgesetzt, etwa bei der Frage der Mobilität oder den Konferenzmaterialien.
Natürlich können wir nicht alle Maßnahmen in allen Handlungsfeldern zu 100 Prozent umsetzen. Aber da, wo wir direkten Einfluss haben, haben wir uns immer für die ‚grüne Variante‘ entschieden. So gibt es ein HVV-Ticket für alle Teilnehmenden. Bei der Konferenz werden Wasserspender aufgestellt und wir verzichten auf Plastik, Einweggeschirr und soweit wie möglich auf Druckerzeugnisse und Give-aways. Beim Catering gibt es vegane Essensoptionen und regionale Produkte. Unser Ziel ist es auch, das Bewusstsein der Teilnehmenden für Nachhaltigkeit weiter zu schärfen.
Wir sind die erste Konferenz an der Universität Hamburg, die nachhaltige Konferenzorganisation systematisch durchführt. Mit der Umsetzung und der anschließenden Dokumentation der Maßnahmen wollen wir einen Beitrag leisten, damit das Konzept verstetigt
Konferenz ECER
Mehr Informationen zur ECER und dem Programm gibt es auf der Tagungs-Webseite.