Von Harvard nach HamburgInterview mit Anna Biggs
28. Juni 2019, von Heiko Fuchs
![Anna Biggs](https://assets.rrz.uni-hamburg.de/instance_assets/uni/11240348/anna-biggs-uhh-min-fuchs-img733x414-035fb0115ac441d47cdbe6e61dfddaaee8ed4027.jpg)
Foto: UHH/Fuchs
Anna Biggs studiert an der Harvard Universität Mathematik und Physik. Die Zwanzigjährige absolvierte im Sommer 2018 in der Emmy Noether-Gruppe von Dr. Murad Alim am Fachbereich Mathematik der Universität Hamburg ein mehrmonatiges Forschungspraktikum. Nun ist sie zurück in Hamburg, um eine Veröffentlichung fertigzustellen. Ein Gespräch über Hamburg, die Stringtheorie und Männerdomänen.
Frau Biggs, Sie studieren in Harvard im 5. Semester und haben im vergangenen Jahr ein Forschungspraktikum an der Universität Hamburg absolviert. Warum haben Sie sich für Hamburg entschieden?
Mein Betreuer im Fachbereich Physik in Harvard, Dr. Jacob Barandes, kennt Dr. Alim. Da ich internationale Erfahrung sammeln wollte, schlug er mir vor, Kontakt nach Hamburg aufzunehmen. Ich habe mit Dr. Alim mehrere E-Mails ausgetauscht, ein paar Mal geskypt und mich dann für ein Praktikum an der Universität Hamburg entschieden.
Was mögen Sie an Hamburg?
Ich wusste vor meiner Ankunft nicht viel über die Stadt, aber als ich hierherkam, gefiel mir Hamburg sehr gut, besonders die bunten Gebäudefassaden in St. Pauli. Im vergangenen Sommer hatte ich eine Unterkunft in St. Pauli – vorher war ich nie in einem Stadtteil mit so viel „Street Art“ gewesen. Ich meine damit sowohl Graffiti als auch Plakate und Zettel an den Straßenwänden, das ist etwas, was ich wirklich charmant finde. Ich mag die Lebendigkeit und die Ausdruckskraft von St. Pauli. Als ich an die Universität Hamburg kam, war der größte Teil meiner Erfahrungen von den Menschen geprägt, die ich in der Gruppe von Dr. Alim kennengelernt habe, die sehr hilfsbereit und freundlich waren. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen.
Was ist der größte Unterschied zu Harvard?
In Harvard belegen die Studierenden eine Vielzahl von unterschiedlichen Fächern. Im Geomatikum, dem einzigen Gebäude der Universität, das ich kenne, studiert jeder ausschließlich Mathematik oder eine Naturwissenschaft. Außerdem gibt es in Harvard offenbar mehr Flexibilität im Lehrplan, als es hier der Fall ist. Wir haben ein paar Pflichtkurse, aber es gibt keinen festen Lehrplan pro Semester. Ich kann auch neben Mathematik und Physik problemlos Kurse in Geschichte, Sozialwissenschaften oder Philosophie belegen.
Wann stand für Sie fest, dass Sie sich auf die Mathematik bzw. theoretische Physik spezialisieren wollen?
Wahrscheinlich in meinem zweiten Jahr an der Universität. Ich bin mit der Idee gestartet, dass ich etwas mit Naturwissenschaften, Technik und Mathematik machen wollte, war mir aber unsicher. Also nahm ich an einigen Physik- und Mathematikkursen teil und fand es toll. Hier in Hamburg lernte ich in der Gruppe von Dr. Alim Forschung im Bereich der Theoretische Physik kennen und fand schnell heraus, dass diese Art von Forschung genau das Richtige für mich ist.
Woran haben Sie während Ihres Praktikums geforscht?
Die Grundidee meines Projekts ist, dass wir uns für Pfade in einer komplexen Ebene interessieren, die bestimmte mathematische Beziehungen erfüllen. Abhängig von den Parametern, kann sich die Anzahl der Pfade verändern, in einem einfachen Beispiel von drei zu zwei. Wie die Anzahl der möglichen Pfade von diesem Parameter abhängen, ist sowohl ein interessantes mathematisches als auch ein physikalisches Problem. Die Existenz dieser Pfade hängt mit dem Vorhandensein spezieller Partikelzustände in der Stringtheorie zusammen.
Nach nur zwei Jahren Studium forschen Sie bereits an der Stringtheorie. Ist das nicht eine große Herausforderung?
Sicher, obwohl die Herausforderung nicht so groß ist, wie sie vielleicht erscheint. Meine Forschung beinhaltet ein klar definiertes mathematisches Problem, und obwohl ich noch nicht den gesamten Hintergrund der Stringtheorie erfasse, habe ich das mathematische Wissen, um daran zu arbeiten und es zu verstehen.
Mathematik, Physik und die anderen Naturwissenschaften waren lange Zeit reine Männerdomänen. Auch heute noch gibt es in Deutschland einen geringen Frauenanteil im Studium. Wie ist die Situation in den USA?
Das ist bei uns sehr ähnlich: Mit zunehmender Nähe zu Führungspositionen sinkt der Frauenanteil. So sind in meinen Mathematik- und Physikklassen vielleicht von der Hälfte bis zu einem Viertel Frauen und in der Graduiertenschule ist es ein Verhältnis von eins von zehn. Die meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen sind in der Mathematik und Physik unterrepräsentiert, nicht nur Frauen. Homo- und Transsexuelle, die meisten ethnischen Minderheiten und Menschen mit Behinderungen sind in der Physik in den USA nicht so erfolgreich, wie weiße, heterosexuelle Männer.
Wurden Sie besonders gefördert?
Es gibt einige Programme, die darauf abzielen, den Anteil von Frauen in wissenschaftlichen und technischen Berufen zu erhöhen. Ich habe zum Beispiel ein Sommerprogramm am MIT in den Bereichen Elektrotechnik und Informatik absolviert, das bei jungen Frauen Interesse für ein Studium in diesen Fächern wecken sollte. In Harvard gibt es verschiedene Gruppen, wie z. B. „Frauen in der Physik“ für Studentinnen und Doktorandinnen, die Workshops, Konferenzen und Mentoring-Programme oder einfach ein gemeinsames Abendessen organisieren. Ziel ist es, die Studentinnen besser zu vernetzten und Unterstützung durch ältere Studentinnen erhalten zu können. Ich fühle mich außerdem von bestimmten Betreuern und Professoren unterstützt, die leidenschaftlich mit mir sowohl über Physik als auch über das Leben diskutiert haben. Die sich für mich und meine Ideen interessieren und auch in meine Ausbildung investiert haben. Glücklicherweise haben aber auch meine Eltern mich sehr unterstützt. Als ich in der Schule mit Mathe zu kämpfen hatte, half mir meine Mutter bei meinen Hausaufgaben.
Wie haben Sie Ihr Auslandspraktikum finanziert?
Es gibt an meiner Universität ein Stipendium für Studierende, die im Ausland ein Vollzeitpraktikum absolvieren und neben wissenschaftlichen auch interkulturellen Erfahrungen sammeln möchten, das sogenannte „Weissman International Internship Program Grant“. Ich habe mich beworben, war erfolgreich und konnte nach Hamburg kommen.
Was haben Sie nach dem Studium vor?
Nach meinem Abschluss möchte ich auf jeden Fall in theoretischer Physik promovieren. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass ich mir erstmal ein Jahr Zeit nehme, um zu reisen oder zusätzliche Studienkurse zu belegen. Nach meiner Promotion würde ich idealerweise gern als PostDoc an verschiedenen Universitäten forschen und mich dann für Lehraufträge an Hochschulen bewerben.
Förderangebote
Auf dem Weg der wissenschaftlichen Karriere bietet die MIN-Fakultät speziell für Frauen zahlreiche Unterstützungs-, Qualifikations- und Vernetzungsmöglichkeiten an.