Den Moment wertfrei wahrnehmen:Ringvorlesung zu Achtsamkeit in der Pädagogik
12. April 2019, von Anna Priebe
Foto: UHH/Scholz
Der Begriff der Achtsamkeit spielt in der Pädagogik eine wichtige Rolle. Wie die aussieht und welche neuen Erkenntnisse es dazu in der Forschung gibt, sind Themen einer aktuellen Ringvorlesung. Der Vortrag am Montag, 15.4.: „Gelassenheit und Achtsamkeit durch Introvision“. Referentin Prof. Dr. Telse Iwers von der Universität Hamburg im Interview.
Achtsamkeit ist momentan schon fast ein Modebegriff. Wie wird er in der Pädagogik definiert?
Es gibt verschiedene Definitionen für Achtsamkeit, aber einen gemeinsamen Kern: Die Fokussierung auf die wertfreie Wahrnehmung der aktuellen Situation mit all ihren verschiedenen Gegebenheiten.
Gemeinsam mit meiner Kollegin Janike Tammena habe ich diesen Kern für die Pädagogik mittels qualitativer Studien weiter differenziert. Konkret geht es bei uns um die bewusste und fokussierte Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment, etwa in einer Lehrsituation, aber auch die Beobachtung aller Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke und ihre wertfreie Akzeptanz sowie eine innere Haltung von Empathie.
Ursprünglich entstammen der Begriff der Achtsamkeit und ihre Trainingsmethoden dem Buddhismus, wo es eines der zentralen Konzepte der Lehre ist. Dieses hat in den letzten 2500 Jahren in den asiatischen Verbreitungsgebieten des Buddhismus nur wenig Veränderung erfahren. So haben die Methoden und Ansätze auch bei uns in verschiedenen Disziplinen wie der Medizin und dem Gesundheitswesen, der Psychologie, der Neurowissenschaft, der Organisationspsychologie und auch der Pädagogik Einzug gehalten.
Wie kann Achtsamkeit praktisch in die Pädagogik eingebunden werden?
Es gibt unterschiedliche Reflexions- und Trainingsmodelle, die die verschiedenen Aspekte der Achtsamkeit unterschiedlich stark fokussieren. So werden z. B. Angebote zur Förderung von Achtsamkeit von Schülerinnen und Schülern erprobt, welche auf die bewusste Aufmerksamkeit des aktuellen Momentes abzielen. So kann etwa am Anfang des Unterrichts eine bestimmte Wahrnehmungsübung gemacht werden, um die Kinder auf die Stunde einzustimmen. Es werden aber ebenso Angebote entwickelt, die mehr auf die Entwicklung von wertfreier Akzeptanz der eigenen Biographie abzielen, unter anderem bei Kindern aus sozial schwächeren Familien, oder auf die Entwicklung einer empathischen Haltung anderen gegenüber. Hier sind unter anderem Impulse der Lehrkraft in Konfliktsituationen denkbar, wenn die Kinder aufgefordert werden, einen Streit sachlich zu reflektieren.
Welche Forschungsprojekte laufen zu diesem Thema an der Universität?
Forschungen zur Achtsamkeit werden an der Universität Hamburg aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrieben, so z. B. in der Buddhismuskunde des Afrika-Asien-Institutes und in der Akademie für Weltreligionen sowie im Kontext der Friedensbildung. Eine Forschungsgruppe an der Fakultät für Erziehungswissenschaft befasst sich zudem mit der sogenannten Introvision. Diese Methode wurde an der Universität von Prof. Dr. Angelika C. Wagner entwickelt. In der Introvision geht es darum, innere Konflikte und dysfunktionale Gewohnheiten zu erkennen und herauszufinden, wie diese kognitiven Prozesse reguliert werden können. Dies bezieht sich im schulischen Kontext einerseits auf die Lehrerinnen und Lehrer, die durch eine Analyse der Wahrnehmungen und anschließende gezielte Selbstregulation zu mehr Gelassenheit und Achtsamkeit gelangen. Andererseits bietet die Introvision auch Übungen zum aufmerksamen Wahrnehmen für Schülerinnen und Schüler, die keine vorausgehende Analyse erfordern.
Auch außerhalb der Forschung werden an der Universität in verschiedensten Kontexten Angebote zur Achtsamkeitsförderung gemacht, z. B. im Campus-Center, im Zentrum für Weiterbildung oder im Career Center.
Welche Themen werden in der Ringvorlesung aufgegriffen?
Innerhalb des expandierenden und hochaktuellen Feldes ist es erforderlich, einigen Fragen zur Achtsamkeit speziell aus der Perspektive der Pädagogik nachzugehen. Daher haben wir unsere Ringvorlesung ‚Forschen in eigener Sache‘ genannt.
Damit verbinden wir die Frage nach einer Definition oder auch verschiedenen Definitionen im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Auch das Verhältnis von achtsamer Innen- und Außenwelt sowie der Zusammenhang zwischen kollektiver und individueller Achtsamkeit stehen im Fokus. Dabei geht es auch um säkulare und/oder religionsgebundene Begründungen der Verfahren.
Die Vorträge der Ringvorlesung konzentrieren sich dementsprechend zum einen auf das Handlungsfeld Schule und untersuchen zum Beispiel die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenz von Schülerinnen und Schülern. Zum anderen befassen sie sich mit übergeordneten Fragestellungen zur Selbstregulation, zur achtsamen Interaktion, zur Förderung dialogischen Lernens, etwa als interreligiöse Fachdidaktik, und zur friedensbildenden Relevanz in der multikulturellen Gesellschaft.
Ringvorlesung „Achtsamkeit in der Pädagogik“
Die Ringvorlesung im Sommersemester 2019 wird von der Fakultät für Erziehungswissenschaft, der Akademie der Weltreligionen und dem Initiativkreis Friedensbildung koordiniert und bündelt verschiedene Perspektiven auf dieses Thema – ausgehend von der Frage, wie Achtsamkeit in die pädagogische Arbeit integriert werden kann. Sie findet bis zum 8. Juli immer montags, um 18 Uhr im Anna-Siemsen-Hörsaal Von-Melle-Park 8 statt.
Unterstützt wird die Ringvorlesung durch das „Institut für Achtsamkeit, Verbundenheit und Engagement“, die Gustav Prietsch-Stiftung, die Studienstiftung Buddhismus sowie durch das Netzwerk Ethik heute.
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