WM-Start 2018:Von giftigen Dämpfen und Eingeweiden – zur Geschichte des Orakels
15. Juni 2018, von Anna Priebe
Foto: UHH/Rieß
Zu Fußball-Weltmeisterschaften haben sie Hochkonjunktur: Orakel. Ob Kraken, Eber und Schneeleoparden – nichts bleibt unversucht, um das Ergebnis bestimmter Spiele vorherzusagen. Doch das war nicht immer der Zweck von Orakeln. Ein Interview mit Prof. Dr. Werner Rieß, Professor für Alte Geschichte, über antike Orakel und ihre Bedeutung.
Heute sind es beispielweise Kraken. Wie sahen Orakel zu ihrer Hoch-Zeit in der Antike (800 v. Chr. bis ca. 600 n. Chr., Anmerk. d. Red.) aus?
Orakel konnten ganz unterschiedliche Dinge sein. Es gab sogenannte Los-Orakel, bei denen zum Beispiel Tierknochen geworfen wurden. Das Orakel in Dodona, in Nordgriechenland, war eine Eiche, die dem Zeus geweiht war. Aus dem Rauschen des Baumes versuchte man, den Willen des Zeus herauszuhören. Und in Delphi atmete eine junge Frau, die sogenannte Pythia, Dämpfe ein, die sie in eine Trance versetzten. Die Priester stellten ihr dann eine Frage – die Frau diente quasi als Medium – und sie antwortete so wirr und stammelnd, dass der Spruch von den Priestern gedeutet werden musste.
Was war Zweck der Orakel? Auch das Tippen von Sportveranstaltungen?
Nein, damals ging es vielmehr darum, sich in Krisensituationen Entscheidungshilfen von den Göttern zu holen. Wir wissen zum Beispiel, dass es beim Orakel von Dodona oft sehr private Fragen waren, wie: Soll ich heiraten? Werde ich eine Frau bzw. einen Mann finden? Werden wir Kindern bekommen?
In Delphi dagegen haben auch Herrscher und Städte angefragt; hier ging es mehr um politische Fragen bis hin zu „Soll ich einen Krieg anfangen?“ oder „Ist jetzt ein günstiger Zeitpunkt, um Kolonialisten in unbekannte Länder zu schicken?“. Das Orakel in Delphi war damals durch die vielen Besucher eine regelrechte Informationszentrale und bekam so eine politische Funktion.
Hat man damals auch schon Tiere befragt?
Man hat Tiere nicht direkt befragt, man hat sie beobachtet, die Römer etwa den Vogelflug. Wir kennen das ja auch: Je nachdem, wie die Schwalbe fliegt, gibt es gutes oder schlechtes Wetter. Was man bei den Griechen, Römern und Etruskern zudem viel gemacht hat, war die Eingeweideschau, die sogenannte Hieroskopie, im Lateinischen haruspicium. Man hat also in den Eingeweiden von Opfertieren geschaut, ob zum Beispiel ein günstiges Omen für die Schlacht zu erkennen war oder nicht.
Es gibt eine Bronzeleber aus Piacenza, die von den Etruskern stammt. Das ist ein Modell, bei dem die Leber eines Schafes in verschiedene Sektionen unterteilt ist, sodass der Anfänger in der Eingeweideschau damit üben kann. So nach dem Motto: Wenn die Leber links oben dunkelrot verfärbt ist, dann bedeutet das Unglück. Hieroskopie wurde also regelrecht unterrichtet.
Heute ist jedes Haustier potenziell ein Orakel. Wie wurde die Pythia ausgewählt?
Wir denken, dass es die Priester von Delphi waren, die die Tochter einer wohlhabenden Familie für eine befristete Zeit auswählten, um diesen Dienst zu tun. Es gab aber keine spezielle Ausbildung. Offenbar war es eine Auszeichnung für Familien, wenn eine junge Frau als Pythia ausgewählt wurde – obwohl es sehr anstrengend war: Die Frauen mussten wegen Erschöpfung und Krankheiten aufgrund der Dämpfe immer wieder ausgetauscht werden.
Die Dienstzeit der meisten WM-Orakel ist auf die Dauer des Turniers beschränkt. Wann endete die Hoch-Zeit des antiken Orakels?
Erst am Ende der Spätantike durch die Christianisierung. Schlussendlich ist das Orakel von Delphi vom christlichen Kaiser Theodosius I., der es als heidnisch empfand, im Jahre 391 n. Chr. verboten worden. Das Versiegen des Orakels in Delphi und dann sogar seine Schließung deuteten bereits das Ende der Antike an.
Was fasziniert Menschen an diesen Formen der Vorhersagen?
Das Bedürfnis der Menschen, wissen zu wollen, was die Zukunft bringt, ist eine anthropologische Konstante. In dieser existenziellen Frage suchen sich Menschen jede Form von Hilfe und vertrauen dabei auch nicht immer dem herrschenden Glaubenssystem. Auch nach dem Verbot lebten die Praktiken weiter, wenn auch nicht offiziell.
Ihr WM-Tipp?
Ich glaube, dass die Deutschen sich schwer tun werden, aber bis ins Halbfinale kommen. Als Weltmeister tippe ich auf Brasilien.