Bildung und MachtInterview mit Prof. Dr. Joachim Schroeder zum „Paulo Freire Kongress“ an der Universität Hamburg
9. November 2018, von Sarah Batelka
Foto: Luiz Carlos Cappellano
Mit dem Werk des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (1921-1997) beschäftigt sich eine Tagung der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Freire gilt als Ikone der sogenannten kritischen Pädagogik. Auf dem „Paulo Freire Kongress 2018“ geht es um eine Bestandsaufnahme seines Wirkens in verschiedenen Ländern und Arbeitsbereichen, das bis heute weltweite Anerkennung und Resonanz erfährt. Vom 9. bis 11. November soll einem breitem Fachpublikum und der öffentlichen Debatte die Vielfalt der Anwendungsfelder seiner Theorien präsentiert werden. Dazu sind verschiedene Foren geplant. In ganztägigen Workshops werden darüber hinaus praktische Umsetzungen von Freires Ansätzen in den Bereichen Kunsttherapie und Theaterpädagogik angeboten. Was es mit der Pädagogik von Freire auf sich hat und warum sein Werk heute noch wichtig ist, erläutert Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Joachim Schroeder.
Wofür steht die Pädagogik von Paulo Freire?
Bildung wird laut Freire konsequent in Bezug auf Machtverhältnisse gedacht: In der Lehrer-Schüler-Beziehung, in den Geschlechterverhältnissen, zwischen relativ Reichen und absolut Armen. Auch im Weltsystem zwischen den Ländern des voll entwickelten Kapitalismus und denen im so genannten „globalen Süden“ herrschen ökonomische, soziale und kulturelle Beziehungen der Dominanz, Hegemonie, Asymmetrie und Ungerechtigkeit, die sich – so Freire – über die Bildungssysteme permanent reproduzieren. Bildungsarbeit nach Freire versucht, diese Strukturen der Macht im Alltag der Menschen zu „entschlüsseln“ sowie in und durch Bildungsarbeit Strategien zu entwickeln, wie solche Machtverhältnisse aufgebrochen werden können.
Freire-Pädagogik kritisiert Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung, macht die „Praxis der Unterdrückung“ zum Gegenstand der Bildungsarbeit, und entwirft gleichzeitig Utopien einer „befreienden“ Pädagogik, die gegen diese alltägliche und strukturelle Ungleichheit gerichtet ist. Freire selbst hat die Theorie und Umsetzung seiner Pädagogik vor allem in der Alphabetisierungsarbeit entwickelt, aber sie ist auch in vielen anderen Handlungsfeldern, insbesondere der Erwachsenenbildung und Sozialarbeit, weltweit und intensiv rezipiert worden.
Welche Impulse kann das Werk von Paulo Freire der heutigen Pädagogik geben?
Machtverhältnisse verändern sich. Deshalb müssen sie immer wieder neu benannt und kritisiert werden. Jede Gesellschaft hat zudem spezifische Machtverhältnisse: So ist es ein Unterschied, ob man in einem Land lebt, das mal Kolonialmacht war, oder in einem Staat, in dem gegenwärtig eine Diktatur herrscht. Macht ist mal deutlich sichtbar, mal verschleiert; mal öffentlich debattiert, mal ist ein Sprechen darüber tabuisiert. Diese „Kulturen des Schweigens“, wie Freire das nannte, gilt es aufzudecken. Freires Ansatz zeigt methodische Möglichkeiten auf, wie dies in pädagogischen Settings gelingen kann. Auch seine Betonung des „herrschaftsfreien Dialogs“ – zwischen Menschen, Gruppen, Kulturen und Staaten – fordert gerade aktuell die Pädagogik und Bildungsarbeit sehr, da unsere Gesellschaft auch heute marginalisiert, stigmatisiert und ausgegrenzt, wie ich in meiner Forschung zur Behindertenpädagogik feststelle.
Was ist das Ziel der Tagung?
Seit Mitte der 1970er Jahre finden in Deutschland – von Zeit zu Zeit – Tagungen statt, die sich mit der Freire-Pädagogik befassen. Freire selbst hatte teilweise persönlich an solchen Treffen teilgenommen. Auch in Hamburg gab es mehrere Veranstaltungen. Die diesjährige Tagung reiht sich somit ein in die Zielsetzungen der vorherigen Kongresse, in denen es jeweils um die fachliche Selbstvergewisserung zum Stand und den aktuellen Herausforderungen einer Freire-Pädagogik geht. Dieses Mal werden beispielsweise Machtverhältnisse durch Digitalisierung diskutiert. Ebenso sollen Praxiserfahrungen präsentiert und reflektiert werden, die in den unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen und auch in der Kultur- und Therapiearbeit mit der Freire-Pädagogik gemacht werden.
Weitere Informationen zum Paulo Freire Kongress: https://www.freirehamburg2018.de/