Abschied von der „Zweiklassenmedizin“?Wissenschaftliche Kommission prüft das duale Krankenversicherungssystem
15. Oktober 2018, von Viola Griehl
Foto: BMG/Schinkel
Im August 2018 trat im Bundesgesundheitsministerium zum ersten Mal eine wissenschaftliche Kommission zusammen, die Vorschläge für ein neues Vergütungssystem für Ärzte erarbeiten soll. Prof. Dr. Dagmar Felix von der Fakultät für Rechtswissenschaft und Prof. Dr. Jonas Schreyögg vom Hamburg Center for Health Economics der Universität Hamburg gehören zu den 13 Expertinnen und Experten aus den Bereichen Gesundheitsökonomie, Medizin und Recht, die bis Ende 2019 prüfen sollen, inwieweit eine Angleichung der Arzthonorare für gesetzlich und privat Versicherte möglich und sinnvoll ist.
Herr Professor Schreyögg, seit wann gibt es in Deutschland ein duales Krankenversicherungssystem?
Prof. Schreyögg: Die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) wurde im Jahr 1965 erlassen, aber den Vorgänger, die Preußische Gebührenordnung –kurz: Preugo–, gab es schon seit 1896. Eigentlich hatten Personen seit Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung 1883 immer auch andere Möglichkeiten, sich zu versichern.
Frau Professorin Felix, wie unterscheidet sich die Abrechnung des ärztlichen Honorars bei einer privat versicherten Person im Vergleich zu Leistungen bei gesetzlich Versicherten?
Prof. Felix: Die jeweiligen Abrechnungssysteme von privater (PKV) und gesetzlicher (GKV) Krankenversicherung unterscheiden sich jedenfalls bezogen auf die ambulante Behandlung nicht nur in der Preisgestaltung, sondern auch in ihrer Systematik und dem jeweiligen Leistungsumfang grundlegend.
Bei privat versicherten Patienten ist neben dem privatrechtlich geschlossenen Versicherungsvertrag die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) maßgeblich. Diese benennt für die einzelnen Leistungen konkrete Preise, wobei eine gewisse Flexibilität hinsichtlich Vergütungshöhe und Leistungsumfang besteht. Das Regelungswerk sieht keinerlei Mengenbegrenzung vor; auch Leistungssteuerung oder Budgetierung sind dem Modell weitgehend fremd.
Völlig anders ist das System der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier besteht ein sehr komplexes Regelungsgeflecht, das im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben insbesondere von den Krankenkassen und den Ärzten als Selbstverwaltungspartner geschaffen wird.
Was bedeutet das?
Prof. Felix: Grob skizziert heißt das: Die Grundlage der Vergütung bildet der so genannten Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), der nicht nur ein Leistungs- und Preisverzeichnis darstellt, sondern dem zugleich eine bedeutende Steuerungsfunktion für die ärztliche Leistungserbringung zukommt Die Stichworte hier sind: Gebührenpauschalen und Budgetierungen. Es erfolgt keine Einzelvergütung einer Leistung, sondern die Vergütung des Arztes besteht in einem Anteil an der von den Kassen an die Kassenärztliche Vereinigung gezahlte Gesamtvergütung, die ihrerseits gedeckelt ist. Die Verteilung dieser Gesamtvergütung an die einzelnen Ärzte erfolgt nach dem Honorarverteilungsmaßstab (HVM), der durch die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung festgesetzt wird und der seinerseits wiederum Instrumente der Mengensteuerung vorsieht.
Kurz gesagt: In den meisten Fällen erhalten die Ärzte für die Behandlung privat versicherter Patienten eine höhere Vergütung. Die unterschiedliche Vergütungslogik könnte – so die immer wieder geäußerte Sorge – falsche Anreize für Ärzte setzen, indem sie etwa privat Versicherte bei den Wartezeiten bevorzugen.
Warum wurde jetzt von der Bundesregierung die Honorarkommission eingerichtet?
Prof. Schreyögg: Alle Elemente der derzeitigen Vergütungsregelung sind mit bestimmten Problemen behaftet. Das betrifft sowohl den Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) als Grundlage für die Abrechnung der vertragsärztlichen Leistungen. Aber auch die GOÄ, die Gebührenordnung für Ärzte zur Abrechnung von Leistungen für staatliche Beihilfe (erstattete Leistungen für Beamte) und die Private Krankenversicherung. Ärzteorganisationen argumentieren beispielsweise, dass der EBM Ärztinnen und Ärzten zu geringe monetäre Anreize zur Niederlassung auf dem Land bietet, um die weniger attraktiven Bedingungen dort wie z. B. das geringere kulturelle Angebot oder fehlende Arbeitsmöglichkeiten für Partner oder Partnerin zu kompensieren. Die GOÄ wiederum besteht aus ganz vielen Ziffern für Einzelleistungen und ist dadurch sehr unübersichtlich. Ein Einzelleistungsvergütungssystem wie die GOÄ birgt auch potenziell die Gefahr der Über- und Fehlversorgung. Beide Vergütungssysteme weisen also Probleme auf, die in der Kommission analysiert werden sollen. Die Kommission soll Ansätze für ein modernes System entwickeln, die die derzeitigen Fehlanreize überwinden und eine wirtschaftliche sowie qualitativ hochwertige Versorgung gewährleisten.
Welche Ansätze gab es bisher, das duale Krankenversicherungssystem zu reformieren?
Prof. Felix: Das duale Krankenversicherungssystem hat in Deutschland eine lange Tradition, war aber auch schon immer Gegenstand der Kritik. Schon in den letzten Jahrzehnten – insbesondere durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 – wurden die Systeme in mancher Hinsicht aneinander angeglichen.
In die PKV wurden Elemente aufgenommen, die eigentlich typisch sind für die öffentlich-rechtliche Krankenversicherung. So besteht heute etwa für nicht gesetzlich versicherte Personen die Verpflichtung, bei einem privaten Versicherungsunternehmen eine Krankheitskostenversicherung abzuschließen; das ist jedenfalls vergleichbar mit der Pflichtversicherung in der GKV. Die Schaffung des so genannten Basistarifs als branchenweit einheitlicher Tarif in der PKV stellt den Zugangsberechtigten Leistungen zur Verfügung, die nach Art und Umfang den Leistungen der GKV entsprechen; zugleich darf der Beitrag den Höchstbeitrag der GKV nicht überschreiten.
Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber im Fünften Sozialgesetzbuch so genannte Wahltarife eingeführt, die an die Systematik der PKV anknüpfen (Stichworte: Selbstbehalt, Nichtinanspruchnahme von Leistungen).
Was wäre denn eine Alternative zum gegenwärtigen Modell?
Prof. Felix: Die größte denkbare und seit vielen Jahren diskutierte Reform wäre die Umwandlung des heute an der sozialen Schutzbedürftigkeit der Versicherten ausgerichteten GKV-Systems in eine Bürgerversicherung, in der ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger unter Einbeziehung aller Einkunftsarten versichert wären. Damit würde das duale System von PKV und GKV aufgehoben, wobei private Zusatzversicherungen weiterhin möglich wären.
Welches werden Ihre Aufgaben in der Kommission sein?
Prof. Schreyögg: Ich bin einer von fünf Ökonomen in der Kommission. Die anderen Mitglieder sind Juristen und Ärzte. Als Ökonomen müssen wir natürlich insbesondere die wirtschaftlichen Anreize betrachten, die von derzeitigen und potenziell künftigen Vergütungssystemen ausgehen und auch deren Implikationen für die Versorgungsqualität. Ich selbst kenne mich mit den relevanten Datensätzen zur ambulanten Vergütung gut aus, so dass ich unter anderem bei der Datenanalyse sicherlich Aufgaben übernehmen werde.
Prof. Felix: Die Juristinnen und Juristen in der Kommission haben vor allem die Aufgabe, die Leitplanken des rechtlich Zulässigen abzustecken. Ein aus Sicht der Mediziner und Ökonomen sinnvolles Vergütungssystem muss sich unabhängig von seiner Ausgestaltung im Detail an den verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben messen lassen. Hier werden wir die jeweiligen Grenzen auszuloten haben. Wir wollen aber nicht nur als klassische „Bedenkenträger“ agieren, sondern zugleich unsere Ideen in die Diskussion einbringen.
Woran sind bisherige Reformen des Krankenversicherungssystems gescheitert?
Prof. Schreyögg: Auch in der Vergangenheit gab es zahlreiche Reformen der Vergütungssysteme. Allerdings gab es bisher noch keine Kommission, die den Auftrag hatte, die ambulanten Vergütungssysteme als Ganzes zu analysieren und Ansätze für ein modernes Vergütungssystem vorzulegen, die die nach derzeitigem Stand der Wissenschaft verfügbaren Erkenntnisse beinhalten. Das ist evidenzbasierte Health Policy, so wie wir Forschende es uns immer vorstellen.
Weitere Informationen
Hier gibt es weiterführende Informationen zur Kommission und ihrer Mitglieder.
Die GKV finanziert sich durch Beiträge und Bundeszuschüsse. Die Beiträge bemessen sich nach einem Prozentsatz des Einkommens. Der gesetzlich festgeschriebene allgemeine Beitragssatz beträgt derzeit 14,6 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen. Einige Kassen erheben auch individuelle Zusatzbeiträge. Der privaten Krankenversicherung liegt eine Art Risikoausgleich zwischen Gesunden und Kranken innerhalb einer Tarifgemeinschaft zugrunde, wonach jeder und jede im Prinzip so viel einzahlen soll, wie - statistisch betrachtet - die medizinische Versorgung im Laufe des Lebens kosten wird. Eine Grundprämie für einen 50-jährigen Angestellten würde z. B. monatlich rund 270 Euro kosten.