Von der Hauptschule nach HarvardIm Interview: Mahmut Martin Yüksel
21. Juni 2018, von Janine Fricke
Foto: UHH/Wendt
Die Noten in der Grundschule reichten nur für eine Hauptschul-Empfehlung. Inzwischen absolviert Mahmut Yüksel ein Doppelstudium in Medizin und Informatik an der Universität Hamburg und bereitet derzeit seine medizinische Promotion an der Harvard University vor.
Du hattest eine Hauptschulempfehlung und hast dann eine akademische Bilderbuch-Karriere hingelegt. Wie hast du das gemacht?
Ich fühlte mich unterfordert und unterschätzt in der Hauptschule, so dass ich nach der 6. Klasse zur Realschule wechselte – den Warnungen der Lehrer, dass ich scheitern würde, zum Trotz. Meine Noten verschlechterten sich erwartungsgemäß und ich hielt mich im ersten Jahr mit Dreien und Vieren über Wasser. Erst nach einem Schlüsselerlebnis in den Sommerferien nach der 7. Klasse schaffte ich es dann in der 8. Klasse, meine Noten zu verbessern.
Als ich schließlich meinen Realschulabschluss hatte, wollte ich wissen, ob ich noch mehr erreichen kann. Ich wechselte zum Gymnasium und machte 2012 schließlich mein Abitur mit einem Einserschnitt. Inzwischen studiere ich im 6. Semester des Modellstudiengangs Medizin an der Universität Hamburg und habe im Wintersemester 2017/18 mit dem Zweitstudium der Informatik begonnen. Ich interessiere mich für Medizintechnik und computergestützte Neurowissenschaft, weshalb mir die Verknüpfung von Medizin und Informatik sinnvoll erscheint.
Was war das für ein Schlüsselerlebnis, das dich zu besseren Schulleistungen motivierte?
Ich habe mit meinen Eltern unsere Verwandtschaft im Südosten der Türkei besucht und mir die Schulen meiner Cousins angeschaut. Die Kinder wurden dort in großen Gruppen klassenübergreifend unterrichtet, Lehrmaterialien fehlten und die Gebäude entsprachen nicht den Standards, die ich aus Deutschland kannte. Einige Mädchen aus dem Dorf durften nicht zur Schule gehen, obwohl sie gern gewollt hätten. Es war so unfair, dass sie gar nicht erst die Chance bekommen haben. Ich spürte plötzlich, wie privilegiert ich war.
Wie kommt es dazu, dass du im Oktober 2018 für 12 Monate nach Harvard gehst?
Im Medizinstudium ist es üblich, die medizinische Doktorarbeit bereits während des Studiums anzufertigen. Der Zeitaufwand ist mit 3 bis 12 Monaten auch wesentlich geringer als in anderen Fachrichtungen. Für mich stand fest, dass ich meine Auslandserfahrung ausweiten möchte. Harvard ist für mich besonders reizvoll, weil es sich um eine renommierte Universität handelt, die mir sehr gute Forschungsbedingungen in der Bildgebenden Medizin bietet.
Da ich meinen ersten Studienabschnitt sehr gut absolviert habe, wollte ich es probieren. Also habe ich mich beworben und freue mich sehr, dass es geklappt hat.
Wie reagiert dein Umfeld darauf, dass du als einstiger Hauptschüler inzwischen studierst und bald nach Harvard gehst?
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich! Familie, Freunde und Bekannte aus dem akademischen Umfeld sind sehr stolz und beglückwünschen mich für diese tolle Möglichkeit. Ehemalige Schulkameraden sind dagegen immer wieder überrascht und fragen gerne auch mehrmals nach: „Und du studierst jetzt wirklich Medizin?“
Am Anfang hatte ich keine Lust auf die vielen skeptischen Blicke. Aber mittlerweile habe ich verstanden, dass es völlig in Ordnung ist, seine Erfolge zu berichten. Denn geteilte Freude ist bekanntlich doppelte Freude.
Mit welchem Thema wirst du dich in deiner Doktorarbeit beschäftigen und welche Erwartungen hast du an die Zeit in Harvard?
Mein vorläufiges Thema lautet “Complexity and connectivity in first-episode psychosis“ („Komplexität und Konnektivität in Erst-Episoden-Psychosen“). Mithilfe computergestützter Bildgebungsverfahren werde ich an 12 bis 15 Patienten, die sich in der ersten Krankheitsepisode einer Psychose befinden, die Komplexität und Konnektivität von Gehirnarealen und Gehirnnetzwerken untersuchen.
Die Zeit in Harvard möchte ich vor allem genießen können. Ich möchte die deutsche Brille mal ablegen und mich in eine ganz neue Denkweise einarbeiten. Die Forschung in der Bildgebenden Medizin finde ich spannend und ich hoffe, dass ich in Boston vielen interessanten Menschen begegne, die mein Leben mitprägen. Insbesondere sind ja nicht nur Amerikaner dort, sondern auch Wissenschaftler und Forscher aus aller Welt. Ich stelle mir die Atmosphäre einfach grandios vor.
Wie sehen deine Pläne für die Zeit nach deiner Rückkehr aus?
Nach aktueller Planung werde ich 2021 mein schriftliches Examen machen. Danach kann ich mir vorstellen, einen Teil des Praktischen Jahres in den Fachgebieten Neurowissenschaft, Psychiatrie oder Kardiologie zu verbringen. Über einen amerikanischen Studienabschluss in Medizin (USMLE – United States Medical Licensing Examination) habe ich auch schon nachgedacht. Es sei denn, mein Start-Up, das ich zurzeit mit vier Freunden gründe, wird durch die Decke gehen (lacht). Dabei geht es um die Entwicklung einer E-Learning-Plattform für Studienanfänger, die auf die medizinische Aufnahmeprüfung vorbereiten soll.
Was kannst du anderen Schülerinnen, Schülern und Studierenden mit auf den Weg geben?
Ich möchte insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund Mut machen. Es kommt nicht darauf an, wo man herkommt und was andere einem zutrauen. Deutschland bietet so viel an Bildungsleistung, das muss man zu schätzen wissen und für sich nutzen.
Auf Empfehlung meines Realschullehrers habe ich mich damals erfolgreich bei der Startstiftung beworben. Das ist ein Stipendienprogramm für Schüler mit Migrationshintergrund, das mich für drei Jahre bis zum Abitur mit einem Laptop, einem monatlichen Taschengeld und einem Budget für Materialien und Sprachkurse förderte.
Insgesamt habe ich bisher neun verschiedene Stipendien erhalten, die mir zum Beispiel die Teilnahme an Sprachkursen im Ausland und einer neurowissenschaftlichen Summer School in Texas ermöglichten. Inzwischen engagiere ich mich bei der Studienstiftung des deutschen Volkes selbst als Botschafter für Chancengerechtigkeit, um Studierende darüber aufzuklären, welche Förderungen sie erhalten können.