Kompetenzen im Brückenbau gefragt: Ringvorlesung in der Philosophie zu den Problemen unserer Zeit3 Fragen an … Prof. Matthew Braham
10. April 2018, von Daniel Meßner
Foto: UHH/Dingler
Migration, Entwicklung künstlicher Intelligenz, globaler Ölhandel, Klimawandel, kulturelle Identität: Unsere Gesellschaft steht vor gewaltigen Herausforderungen. In der Vorlesungsreihe „Reason, Reflection & Responsibilty“ widmen sich Philosophinnen und Philosophen der Frage, wie wir angesichts komplexer Entscheidungsprobleme trotzdem zu Lösungen kommen können. Ein Interview mit Organisator Prof. Matthew Braham, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg.
In der Ankündigung der Vorlesung heißt es, dass eine Erneuerung der Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Was ist damit gemeint?
Ausmaß, Dringlichkeit und Komplexität zahlreicher globaler Probleme machen ein neues Nachdenken notwendig. Denken Sie an den Klimawandel, die Umweltverschmutzung, den Zusammenbruch von Ökosystemen, die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, Europas Staatsschuldenkrise, die Konzentration von Vermögen, die Entwicklung künstlicher Intelligenzen und deren Folgen für unsere Arbeits- und Lebenswelt.
Für alle diese Probleme geht es um Lösungen, die in einem demokratischen Rahmen ausgearbeitet werden müssen, die die menschlichen Lebensbedingungen verbessern und dabei allen die gleiche Freiheit zu einem selbstbestimmten, erfüllten Leben geben. Dieses Ideal sollten wir nicht aus den Augen verlieren, aber Interessenskonflikte und Spannungen machen seine Realisierung schwer. Inzwischen erstarken in Europa sogar erneut nationalistische und autoritäre Kräfte, die unser demokratisches Miteinander grundsätzlich gefährden. Diesem Trend müssen wir entgegenstehen.
Welche Rolle spielt die Philosophie in diesem Erneuerungsprozess?
Die Philosophie hat eine Schlüsselfunktion. Alle Referentinnen und Referenten sind Repräsentanten einer Philosophie, die eines der schwerwiegendsten heutigen Probleme sehr genau kennt: Insgesamt wissen wir heute zwar sehr viel, das Wissen ist aber auf sehr viele verteilt. Diese Fragmentierung des Wissens ist ein zentrales Problem, wenn Probleme nur dann vernünftig gelöst werden können, wenn Wissen aus ganz verschiedenen Bereichen zusammengeführt wird. Für diesen Brückenbau über Disziplinen hinweg sind Philosophen ziemlich gut geeignet, denn in gewisser Weise ist Philosophie eine synthetische Disziplin: Sie erlaubt es, Erkenntnisse systematisch zusammenzuziehen und auf die auszuarbeitenden Politiken zu beziehen.
Und wie können die Debatten weitere Entwicklungen anstoßen?
Die Rednerinnen und Redner der Ringvorlesung sehen es nicht als ihre Aufgabe, große philosophische Systeme abzuliefern. Vielmehr wollen sie dazu beitragen, Klarheit in Probleme zu bringen. Die Philosophie hat dafür ein breites Methodenspektrum. So kann die philosophische Analyse komplexe Entscheidungsprozesse strukturieren, sie trennt das Deskriptive vom Normativen, unterscheidet also, zwischen dem, was ist und dem, was sein soll. Die philosophische Analyse kann helfen, den Streit um Sachfragen von dem bloßen Streit um Worte zu unterscheiden.
Die Reihe ist auch eine Chance für unsere Studierenden, die thematische Vielfalt des Diskurses zu erfahren: Sie deckt ein Spektrum von Philosophie über Politik, Wirtschaft, Rechtswissenschaft und Informatik bis hin zu unseren internationalen Programmen MSc PEP (Politics, Economics and Philosophy) und den European Master in Law & Economics ab. Zwei der Vorlesungen werden in Zusammenarbeit mit Hamburg Lectures in Law & Economics organisiert.
Weiterführende Informationen
Prof. Dr. Matthew Braham ist einer der Organisatoren und Herausgeber eines Buchprojekts zur Zukunft Europas („Twelve Stars“). Das Projekt bringt mehr als 20 europäische Philosophen und Philosophinnen zusammen, um neue Denkanstöße und Lösungen anzubieten zu aktuellen politischen Weichenstellungen, vor denen die Europäische Union steht. Die Vorschläge werden in Bürgerdebatten im Netz einem „crowd-test“ unterzogen und dann zu kurzen, allgemeinverständlichen Essays ausgearbeitet. Das Buch soll im Vorfeld der Europawahl im Mai 2019 erscheinen.
Am 18. Dezember ist Prof. Onora O’Neill (University of Cambridge) zur 2. PEP Weihnachtsvorlesung zu Gast an der Universität Hamburg. In 2017 war Prof. O’Neill mit dem Holberg- und dem Berggruen-Preis ausgezeichnet worden – einem der höchst dotierten Preise in den Geisteswissenschaften. Sie ist eine führende Denkerin an der Schnittstelle von Philosophie und Politik. Prof. O’Neill ist Mitglied im Britischen Oberhaus („House of Lords”) und war von 2006 bis 2013 Vorsitzende des Ausschusses zu Gleichheit und Menschenrechte.