Studieren mit Kind
15. Mai 2017, von Ellen Schonter
Foto: UHH/Dingler
Studieren mit einem Kind scheint für viele ein unmöglicher Spagat zwischen Fläschchen und Vorlesung. Zum Internationalen Tag der Familie am 15. Mai stellen wir eine Studentin der Universität Hamburg vor, die zeigt: Ein Studium mit Kind kann das perfekte Lebensmodell sein.
„Selbstverwirklichung“. So fasst Jessica J.* ihr derzeitiges Leben in einem Wort zusammen und lächelt dabei. Die 25-Jährige studiert im dritten Fachsemester Betriebswirtschaftslehre (BWL) an der Universität Hamburg – und hat einen 11 Monate alten Sohn. „Viele haben mir das nicht zugetraut: dass ich mit einem damals vier Monate alten Kind wieder an die Uni gehe“, erzählt Jessica, während sie einen vergnügten Vincent auf ihrem Schoß wippt. „Aber man muss mutig sein. Mutig genug, um sich freizumachen von Vorurteilen und gut gemeinten, aber schlechten Ratschlägen“.
Rückblick: Jessica ist 23 Jahre alt, als sie den Entschluss fasst, zu studieren. Nach ihrer Ausbildung als Medienkauffrau hatte sie mehrere Jahre für eine IT-Firma gearbeitet, bis sich der Wunsch nach mehr Wissen regte: „Ich wollte Wissenslücken schließen, Strukturen verstehen und Entscheidungen besser nachvollziehen“, erklärt sie. Zum Wintersemester 2015/16 schreibt sich Jessica an der Universität Hamburg in den Bachelorstudiengang BWL ein, studiert zunächst in Vollzeit – und merkt plötzlich: Sie ist schwanger.
„Ich bin nicht nur Mutter, sondern auch noch Frau, Studentin und eine ganz normale 25-Jährige“
Trotz aller Bedenken entscheidet Jessica gemeinsam mit ihrem Freund: Sie will ihr Studium, das sie bewusst begonnen hat, weiter führen. So richtig klar wird ihr erst später, was sie damals für ein Lebensmodell gewählt hat: „Für jeden bedeutet Muttersein etwas anderes“, findet sie. „Manche wollen sich nur um ihr Kind kümmern, andere wollen mit Kinderbetreuung wieder in Vollzeit arbeiten“, erklärt sie. „Für mich bedeutet es: Ich bin zu 100 Prozent für mein Kind da – aber ich bin nicht nur Mutter, sondern auch noch Frau, Studentin und eine ganz normale 25-Jährige mit Interessen, Wünschen und Zielen.“
Jessica ist ehrgeizig; noch sieben Tage vor Vincents Geburt im Juni 2016 besucht sie in Vollzeit Vorlesungen, in denen sie mit ihrem dicken Bauch argwöhnisch beäugt wird. Nach der Geburt ihres Kindes beantragte Jessica bei der Universität Hamburg aber doch ein Teilzeitstudium, das auch noch rückwirkend galt, „eine riesige Erleichterung.“
Unterstützung durch Teilzeitstudium und Familie
Bei einem Teilzeitstudium entspricht ein Fachsemester zwei Hochschulsemestern, die Wochenstundenzahl halbiert sich entsprechend. Seit Vincents Geburt besucht Jessica meist drei Module pro Semester mit insgesamt 12 Wochenstunden.
Um für Jessica anderthalb Tage für die Universität freizuräumen, reduzierte ihr Freund seine Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden. Für finanzielle Unterstützung sorgen zudem Jessicas Eltern – „für mich eine große Überwindung, weil ich gerne unabhängig bin“, sagt sie. „Aber ich bin ihnen dafür auch sehr dankbar.“ Für wichtige oder spontane Termine stehen beide Großelternpaare zur Betreuung bereit, ab und zu springen auch Freundinnen ein.
Stress herrscht vor allem zu Semesterbeginn
Trotz der Unterstützung ist ein Studium mit Kind eine Herausforderung: „Gerade zu Semesterbeginn ist es jedes Mal ein Spagat, weil ich viel organisieren muss“, erzählt Jessica. So muss sie ihre Vorlesungen in anderthalb Tagen am Stück eintakten, die Kinderbetreuung während ihrer Klausuren frühzeitig organisieren oder ihre Eltern bitten, sich gewisse Termine in der Woche für ein halbes Jahr freizunehmen.
Wenn sie nicht an der Uni ist, fordert Vincent Jessicas volle Aufmerksamkeit. „Wenn überhaupt, muss alles nebenher gehen. Und wenn ich mich nur bei STINE anmelde, tippt er fleißig mit“, lacht sie. Deshalb hat sie für die Uni nur bestimmte Zeitfenster. „Vorlesungen nacharbeiten oder Übungen vorbereiten kann ich nur abends oder an ein paar Stunden am Wochenende.“
Natürlich gibt es auch Momente des Verzweifelns – „wie bei jeder Mutter“. Besonders die Klausurphase fordert Jessica; zwar arbeitet sie viel während des Semesters vor oder blockt sich ganze Wochenenden – „aber oft bräuchte ich noch mindestens einen Tag Zeit oder mehr Ruhe“, erzählt sie. „Ich kann mich nicht wie meine Kommilitonen zwei Wochen in der Bibliothek einsperren. Und wenn die Lerngruppen nicht bei mir stattfinden, ist das für mich schwierig.“
Seit ich mit Kind studiere, studiere ich viel bewusster. Uni ist für mich Wellness.
Als eine Last empfindet Jessica den Spagat zwischen Universität und Familie trotzdem nicht. „Seit ich mit Kind studiere, studiere ich viel bewusster – weil ich es für mich selbst tue. Uni ist für mich Wellness.“ Zudem lernt sie mit jedem Semester mehr, sich selbst zu organisieren – vielleicht sogar ein Vorteil gegenüber anderen Studierenden. „Und wenn etwas schief geht, nehme ich es sportlich oder mit Humor.“
Einen Betreuungsnotfall hatte Jessica bisher nur ein Mal – und nahm ihren Sohn einfach mit in den Hörsaal ESA A im Hauptgebäude. „Vincent fand es spannend, von den Rängen herunterzuschauen und hat mit dem Professor mitgeredet“, erinnert sie sich lachend. Bald kann Vincent noch mehr Universitätsluft schnuppern: „Mit zwei Jahren möchten wir ihn in eine Kita des Studierendenwerks geben“, so Jessica.
Anderen Studierenden will die 25-Jährige Mut machen: „Wenn man ein gefestigtes Umfeld hat, ist es für mich das Beste, ein Kind im Studium zu bekommen“, sagt sie. „Ich habe die Freiheit, meinen Tagesablauf flexibel zu bestimmen“. Zudem findet sie die Universität Hamburg kinderfreundlich: So hätte sie außer dem Teilzeitmodus auch die Möglichkeit gehabt, vor und nach der Geburt bis zu sechs Urlaubssemester für die Kindererziehung zu beantragen; die Universität Hamburg unterstützt auch eine flexible Anwesenheitsregelung für Studierende mit Kind.
Mit hochgezogenen Augenbrauen oder skeptischen Blicken geht Jessica übrigens gelassen um: „Man muss sich an Familie und echte Freunde halten und die Leute reden lassen“, sagt sie, während sich Vincent an ihr Gesicht kuschelt. „Wir gestalten unsere Familie so, weil es für uns das Beste ist.“
*vollständiger Name der Redaktion bekannt
Studieren mit Kind an der Universität Hamburg
Studierende können sich an der Universität Hamburg an mehreren Anlaufstellen beraten lassen, wie sie Kind und Universität vereinbaren, z.B. beim Familienbüro, beim CampusCenter oder bei den Studienbüros.
Internationaler Tag der Familie
Am 15. Mai 2017 laden die Familienbüros der Hamburger Hochschulen gemeinsam mit Kooperationspartnerinnen und -partnern zum Internationalen Tag der Familie 2017 ein. Bei Veranstaltungen und an Infoständen können sich alle Interessierten rund um das Thema „Hochschule und Familie“ informieren.