Alumni-interview„Relevanz bedeutet, sich Diskussionen jenseits der eigenen Blase zu stellen“
28. Dezember 2020, von Tim Schreiber
Foto: dpa/Michael Kappeler
19NEUNZEHN stellt regelmäßig Alumni der Universität vor. Dieses Mal: Dr. Barbara Hans. Die SPIEGEL-Chefredakteurin spricht über Zettelberge und Rührei, Einsamkeit und Selbstdisziplin sowie Wissenschaft und Journalismus.
Nach Ihrem Studium sind Sie zum Spiegel gegangen, haben dann gleichzeitig an der Universität Hamburg promoviert und als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Wie haben Sie es geschafft, alles unter einen Hut zu bekommen?
Das ging erstaunlich gut, dank sehr kooperativer Chefs auf beiden Seiten. In der Redaktion fanden manche es etwas merkwürdig, dass ich freiwillig zurückgehe an die Uni, zurück zu Fernleihe, Fußnoten, Mensaessen, miefenden Seminarräumen. Ich habe es als großes Privileg empfunden, zweigleisig fahren zu können. Wenn mich das Word-Dokument mit der Dissertation zu sehr genervt hat, dann konnte ich es niemandem in die Schuhe schieben, sondern mir immer wieder nur sagen: Du hast es so gewollt, du hast es dir selbst eingebrockt. Es war eine große Entlastung zu wissen, dass ich freiwillig in der Bib sitze und ich das Doppelleben jederzeit hätte beenden können.
Wie schwer ist Ihnen die Entscheidung gefallen, ausschließlich journalistisch zu arbeiten und nicht mehr darüber zu forschen?
Als die Diss fertig war, gab es eine Phase, in der ich ziemlich froh war, erst einmal nicht mehr Stunden und Tage vor dem Kopierer zu verbringen und den Papierstau zu bezwingen. Natürlich geht es beim Promovieren um die Forschung, aber es geht auch um Selbstdisziplin. Man muss sich einem Thema über eine sehr lange Zeit verschreiben, das macht auch ganz schön einsam, weil ab einem gewissen Punkt kaum jemand mehr versteht, was man da eigentlich die ganze Zeit treibt. Ich war versöhnt, als mir klar wurde, dass meine Forschungsthemen Vertrauen, politische Inszenierung und Populismus eine Relevanz für die Praxis und die Berichterstattung haben. Ich kann nicht aufhören, in Forschungsfragen zu denken, das wird vermutlich bleiben. Und ich wünsche mir eine engere Verzahnung von Wissenschaft und Praxis.
Hat Ihnen Ihre wissenschaftliche Karriere geholfen auf dem Weg in die Spiegel-Chefredaktion?
Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz, Quellensicherheit, Nachtarbeit, die Leidenschaft zu schreiben, ein Faible für gelbe Textmarker, die Fähigkeit, in einem Zettelberg den Überblick zu behalten und sich in harten Zeiten von Rührei zu ernähren, all das hat vermutlich nicht geschadet.
Ich hab das große Glück, zwei Dinge gefunden zu haben, die mich vermutlich immer reizen werden.
Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind aus Ihrer Sicht wichtig, um im Journalismus so weit zu kommen?
Um im Journalismus weit zu kommen – und das meint jede Recherche und nicht so sehr die Karriere – braucht es zuvorderst Neugierde: die Fähigkeit, sich mindestens so sehr für die Frage zu begeistern wie für die Antwort. Zuhören zu können, statt nur selber reden zu wollen. Klarheit über die eigenen Standpunkte zu haben, ohne missionieren zu wollen. Journalisten sollten keine Aktivisten sein.
Sie sind nach mehr als 70 Jahren die erste Frau an der Spitze des SPIEGEL. Sind Geschlecht und Gleichberechtigung für Sie im beruflichen Alltag noch Themen?
Sie meinen: Bis eine Frau im Kanzleramt regierte, hat es 56 Jahre gedauert; im Weißen Haus regierte in nunmehr 231 Jahren noch keine Frau; unter den 37 Rektoren und Präsidenten, die der Uni Hamburg in 101 Jahren vorstanden, war nur eine Frau; das Wahlrecht für Frauen gibt’s auch erst seit 101 Jahren. Insofern ist der SPIEGEL gut dabei? Alles eine Frage der Perspektive. Ich würde sagen: Da ist noch Luft nach oben. Und Diversität beschränkt sich natürlich nicht auf das Geschlecht.
Wissenschaft und Journalismus haben es nicht leicht in Zeiten, in denen manche Menschen und sogar manche Politikerinnen und Politiker wenig auf Fakten geben, sie sogar leugnen. Wie gehen Sie beim Spiegel mit dieser Herausforderung um?
Das Thema ist so komplex, es reicht vermutlich locker für mehrere Habilitationsschriften aus. Um es stark zu verkürzen: Ich halte es für einen Mythos, dass Verschwörungstheoretiker durch Fakten zu überzeugen sind. Es geht, nach allem, was wir derzeit wissen, bei Bewegungen wie QAnon sehr viel mehr um Emotionalität, Zugehörigkeit, die Reduktion von Komplexität. Wir dürfen uns nicht verunsichern lassen von einer kleinen, lauten Minderheit. Und wir müssen als Journalisten beim SPIEGEL das tun, was wir am besten können: Fakten recherchieren, unabhängig berichten.
Was kann der Journalismus von der Wissenschaft lernen und andersherum?
Der Journalismus kann von der Wissenschaft lernen, Komplexität nicht zu fürchten, Dinge zu durchdringen und sie unter Berücksichtigung aller verfügbaren Quellen zu betrachten. Die Wissenschaft kann vom Journalismus lernen, dass ein Redaktionsschluss nicht nur Nachteile hat – man also Dinge auch fertigmachen und veröffentlichen muss. Und dass Relevanz auch bedeutet, sich Diskussionen jenseits der eigenen Blase zu stellen. Ich wünsche mir, dass viel mehr Disziplinen es schaffen, ihre Erkenntnisse allgemein verständlich zu präsentieren und öffentlich zu machen.
Der Journalismus ist in einem großen Wandel: Beim Spiegel wurden Online- und Print-Redaktion zusammengelegt, der Webauftritt überarbeitet. Wie sind die Erfahrungen seitdem und welche Änderungen stehen noch an?
Die Erfahrungen sind sehr positiv. Unsere Idee war: Die Fusion der Redaktionen soll auch publizistisch sichtbar werden, indem wir Tempo und Tiefe noch enger verschränken. Deshalb haben wir unsere Abläufe überarbeitet, SPIEGEL.de neu gestaltet und mit vielen neuen Elementen versehen. Das war ein Prozess, an dem wir über drei Jahre gearbeitet haben. Denn die Seite sieht nicht nur anders aus, sie hat auch ein neues technisches Fundament. Dieser Prozess ist noch nicht beendet, wir arbeiten weiter intensiv auf allen Ebenen an der Integration der Redaktion.
Vermissen Sie manchmal das wissenschaftliche Arbeiten? Und können Sie sich vorstellen, dass Ihr Weg Sie noch einmal zurück an die Universität führt?
Ich vermisse den Campus, den besonderen Geruch der Bibliothek, den unfassbar starken Kaffee in der Ponybar, die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen am Lehrstuhl, das Unterrichten. Gleichzeitig bin ich leidenschaftlich gern Journalistin, zumal in diesen bewegten politischen und gesellschaftlichen Zeiten, in denen unabhängiger Journalismus vielleicht mehr gebraucht wird denn je und ich gemeinsam mit der Redaktion noch so viel vorhabe. Ich habe das große Glück, zwei Dinge gefunden zu haben, die mich vermutlich immer reizen werden.
Zur Person
Barbara Hans wurde 1981 in Hamm geboren. Sie studierte Kommunikations-, Politik- und Kulturwissenschaften in Münster und Brighton (Großbritannien). 2006 begann sie mit einem Volontariat bei „Spiegel Online“ und wurde 2008 Redakteurin. Daneben war sie Von 2009 bis 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Journalistik und Kommunikationswissenschaft und promovierte über mediale Inszenierungsstrategien von Politikern. 2011 wurde sie Ressortleiterin bei „Spiegel Online“, 2016 Chefredakteurin. Mit der Zusammenlegung von Print und online gehört sie seit 2019 zur Chefredaktion des SPIEGEL.
Die neue 19NEUNZEHN ist da!
Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der 19NEUNZEHN erschienen. Anlässlich der digitalen Erstsemesterbegrüßung zum Wintersemester 2020/21 wurde zudem ein Gespräch von Dr. Barabara Hans mit dem Universitätspräsidenten Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Lenzen aufgezeichnet.